Anne Will zum Fall Nawalny – Die Suche nach dem Schuldigen und dem neuen deutsch-russischen Weg
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Moderatorin Anne Will führt durch den Sonntagstalk im Ersten.
© Quelle: ARD Das Erste/NDR/Wolfgang Borrs
Berlin. Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny liegt in der Berliner Charité und seine mutmaßliche Vergiftung mit dem chemischen Nervenkampfstoff Nowitschok wühlt Deutschland und Europa zunehmend auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte in ungewöhnlich scharfem Ton die Kooperation des Kreml bei der Aufklärung des Anschlags. Seitdem überschlagen sich deutsche Politiker mit Forderungen und Ideen, wie denn Russland für die Vergiftung des unangenehmen Putin-Kritikers zu sanktionieren sei. Vor allem der Abbruch des deutsch-russischen Erdgas-Projektes Nord Stream 2 wurde mehrfach gefordert.
Die Kernfrage der Runde bei “Anne Will” vom Sonntagabend
Ob das denn überhaupt schon angebracht ist und wenn in welcher Härte, das wollte am Sonntagabend ARD-Talkmasterin Anne Will in ihrer Runde erörtern. Die grundsätzliche Frage der Sendung: Ändert Deutschland jetzt seine Russland-Politik? Hinterher lässt sich sagen, dass die Runde vor allem um folgende zwei Fragen kreiste: Trägt Russland die Verantwortung und Schuld für den Giftanschlag? Und in welcher Weise hätten sich Deutschland und die Europäische Union Russland abzugrenzen? In dieser Debatte wollte sich vor allem ein Gast aus der Gruppe herauslösen.
Die Argumentationen der Gäste vom 7. September
Diplomat Wolfgang Ischinger, der seit 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz leitet, lobte zu allererst die Bundeskanzlerin für die Ankündigung nicht einer deutschen, sondern einer europäischen Reaktion auf die Vorkommnisse um Alexej Nawalny. Die Angelegenheit sei seiner Auffassung nach keine deutsch-russische und die Behandlung des russischen Politikers in der Charité ein Akt humanitärer Hilfe und keine politische Einmischung. Für ihn besteht ein innereuropäischer Konflikt. Bezüglich des Pipeline-Projektes Nord Stream 2 ist Ischinger der Meinung, dass ein Abbruch für die beteiligten deutschen Unternehmen sehr schädlich wäre. Dennoch gehöre das Projekt auf den Tisch, wenn Deutschland sich mit den Partnern in der EU zu Sanktionen berate.
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Norbert Röttgen, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses und Kandidat auf den Vorsitz der CDU, blieb bei seinen Aussagen aus den Interviews, die er nach der Diagnose Nawalnys und dem Statement der Kanzlerin gegeben hatte. Seiner Meinung nach dient der Anschlag auf Nawalny dem Warnsignal an politische Gegner des russischen Regimes. Vor allem im Zuge der Demonstrationen gegen Staatschef Alexander Lukaschenko, die seit gut einem Monat andauern, sei die Warnung aus Kremlsicht passend getimt, so Röttgen. In Nord Steam 2 sieht er vordergründig Putins wunden Punkt und ist der Überzeugung, dem russischen Präsidenten nur durch einen Abbruch des Projektes verständlich machen zu können, dass es so nicht weitergeht.
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Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen griff Röttgen und Ischinger direkt an und warf ihnen reine Spekulation bei der Festlegung auf russische Verantwortlichkeit im Fall Nawalny vor. Nowitschok sei über die Jahrzehnte auch in den Besitz weiterer Nachrichtendienste wie dem BND gelangt. Seine Verwendung sei noch gar kein konkreter Hinweis auf russische Beteiligung. Sie verurteilte deshalb auch die vielen Rufe nach Sanktionen als “befremdlich”. Eine Sanktionierung Russlands durch den Abbruch von Nord Stream 2 betrachtete Dagdelen eher als Unterstützung des Wirtschaftskrieges von US-Präsident, den er gegen Russland führe.
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Grünen-Politiker Jürgen Trittin verteidigte ähnlich deutlich wie Ischinger und Röttgen die Einmischung Deutschlands und sagte zum Fall Nawalny und der bisherigen Wortmeldungen: “Das geht alle etwas an – nicht nur Deutschland und Russland. Der Besitz chemischer Waffen ist verboten und dennoch werden sie wiederholt eingesetzt”, sagte er. Außerdem kritisierte er Dagdelen. Seiner Meinung nach habe Russland eine Verantwortung, weil der russische Oppositionelle auf russischem Boden oder in einer russischen Maschine vergiftet und in einem russischen Krankenhaus behandelt wurde, wo zunächst eine Vergiftung ausgeschlossen wurde. Bezüglich Nord Stream 2 schlug Trittin in dieselbe Kerbe wie seine Parteigenossin Katrin Göring-Eckardt und verlangte den Abbruch von Nord Stream 2 und allen weiteren entsprechenden Projekte.
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Politikwissenschaftlerin Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik argumentierte aus wissenschaftlicher Sicht ebenfalls dafür, dass für Russlands Beteiligung an der Vergiftung von Nawalny vieles spreche. Auch sie führte an, dass der Anschlag dem Stil des russischen Systems entspräche, wenn es darum ginge, unangenehme Wortführer und Gegner aus dem Weg zu räumen. Nowitschok war auch für sie ein klarer Hinweis auf Russland, obwohl sie zustimmte, dass auch andere Nachrichtendienste es in ihrem Besitz hatten.
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Der große Streit
Der ganz große Zank drohte loszubrechen, als Dagdelen das Wort erhielt und Röttgen und Ischinger damit abkanzelte, sie würden aus Spekulationen vorschnell Urteile machen. Nowitschok könne ja auch von anderen Nachrichtendiensten eingesetzt werden. Ischinger reagierte verärgert und bezeichnete Dagdelens Aussagen als “empörend”, weil sie Verschwörungstheorien Nährboden verschaffe und den beiden unterstelle, sie würden Putin und den Kreml vorschnell verurteilen. Dabei sei doch klar, dass Russland zumindest verpflichtet sei, Aufklärung zu schaffen. Von einer klaren Schuld eines Einzelnen habe niemand gesprochen. Ob es nun Putin selbst oder ein übermotivierter Geheimdienstmitarbeiter getan und befehligt habe, sei in erster Instanz aber auch nicht so erheblich.
Damit traf er die Meinung aller anderen Gäste genau. Dagdelen argumentierte dagegen, zwischendurch auch mit Ciceros “Cui-Bono-Prinzip”, das besagt, dass man sich im Zuge eines Prozesses die Frage nach dem Nutznießer einer Tat stellt. Damit befeuerte sie allerdings nur wieder die Ausführungen Röttgens, Ischingers und auch Trittins, die wiederholt auf den Signaleffekt der Angst auf politische Gegner verwiesen und auf die Tatsache, dass Nawalny ja schlicht als Kopf der Opposition in Russland nicht mehr im Weg gestanden hätte, wäre er an der Vergiftung gestorben. Dagdelen musste sich zumindest in dem Punkt geschlagen geben, dass Russland an der Aufklärung aktiv mitarbeiten müsse.
Die Frage nach den Sanktionen
Nord Stream 2 war das Zauberwort, an dem sich die Gäste erneut ausgiebig rieben. Während sich die vier vorher schon einigen Diskutanten mehr oder weniger darin übereinstimmten, zeigten, Nord Stream 2 könne unter Umständen ein passendes Druckmittel gegen Russland darstellen, war es wieder Dagdelen, die das anders sah. Mit einem Abbruch spiele man Donald Trump in die Karten.
Fall Nawalny: Nato fordert "internationale Antwort"
Nawalny war vor rund zwei Wochen auf einem Flug innerhalb Russlands zusammengebrochen und wird inzwischen in der Berliner Charité behandelt.
© Quelle: Reuters
Zitat des Abends
Das Zitat des Abends stammt von Jürgen Trittin, der sagte: “Wir Grünen sagen, dass wir all diese Pipelines nicht brauchen. Ganz im Gegenteil. Wenn wir uns geostrategisch unabhängig machen wollen, müssen wir den Verbrauch fossiler Brennstoffe einstellen.” Und damit sprach der ehemalige Bundesumweltminister (1998 bis 2005) einen nicht unwahren Punkt an. Man stelle sich die Frage: Wo stünde Deutschland in diesem Konflikt, wenn keinerlei Abhängigkeiten von Lieferungen der fossilen Brennstoffe Erdgas und Öl aus Russland bestünden? Zumindest erntete Trittin engagiertes Kopfnicken von Norbert Röttgen.
Gewinner und Verlierer des Abends
Zu den klaren Gewinnern zählt Trittin. Der 66-Jährige wirkte in seinem Reden deutlich und bestimmt, aber größtenteils ruhig. Etwas emotional wurde er nur, als er sich darüber echauffierte, wie oft Russland sich nun schon geleistet habe, Journalisten und Oppositionelle zu töten, die die Machenschaften und Korruptionen der Staatsgranden aufgedeckt hatten oder im Inbegriff waren, derart unbequem zu werden.
Ebenfalls ein Gewinner war Wolfgang Ischinger. Der Diplomat blieb seinem Berufsbild treu, ließ aber nicht alles auf sich sitzen. Beeindruckend: Obwohl er sich von Dagdelen offensichtlich missverstanden und auch zu Unrecht abgekanzelt fühlte, blieb er diplomatisch.
Unter den Gästen war Linken-Abgeordnete Dagdelen die einzige Verliererin. Zwar muss man ihr zugutehalten, dass sie die meiste Zeit den drei Herren Gegenargumente liefern musste, weil sie entsprechende Gegenpositionen einnahm, aber dies gelang ihr kaum. Sie wirkte unruhig, wenn sie sprechen durfte, obwohl keine Gesprächskultur der Unterbrechung herrschte, und ihre Argumentationen hatten zu oft den Anschein, wild zusammengewürfelt zu sein. Durch die Gegenargumentationen der anderen Redner wurden Dagdelens Ausführungen ein ums andere Mal erst richtig verständlich.
RND/cmp