Sonderhefte verabschieden die Kanzlerin: nicht alle werden der Ära Merkel gerecht
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Von seriös bis seltsam: Mehrere Magazine würdigen Angela Merkel zum Abschied – mal mehr, mal weniger gelungen.
© Quelle: Merkel Magazine
Am Nikolaustag endet eine Ära: Voraussichtlich am 6. Dezember 2021 wird Olaf Scholz seinen Amtseid als neuer deutscher Bundeskanzler ablegen. Dann wird sich Angela Merkel nach 5858 Tagen im Amt in den Ruhestand verabschieden – 16 Jahre und 14 Tage nach ihrem eigenen ersten Amtseid 2005. Damit hätte sie dann den Rekord von Helmut Kohl um nur zwölf Tage verpasst. Es gilt jedoch als gesichert, dass sie den Tag herbeisehnt, an dem sie endlich nölige Ministerpräsidenten, unfaire Leitartikler, biestige Parteifreunde und diese endlos zähen Krisensitzungen bei miesem Filterkaffee und Plätzchenmischung hinter sich lassen kann. Auf zur Datsche, zur Freiheit!
Ein halbes Dutzend Sonderhefte liegt zu Merkels Abschied an den Kiosken. Sie alle haben den Anspruch, dieser unvergleichlichen Politkarriere gerecht zu werden und in einem „einzigartigen Heft“ die Geschichte einer „einzigartigen Frau“ zu erzählen („Focus“-Chefredakteur Robert Schneider). Denn diese Hefte sind eben auch „ein Abschied für uns – von einer Regierungschefin, an der wir uns Tag für Tag, 16 Jahre lang, abgearbeitet haben“ („Hausmitteilung“ in „Spiegel Biografie“). In der Tat ist manches der Merkel-Abschiedshefte einzigartig geraten, wenngleich auf eher ungewollte Weise. Es ist halt auch problematisch, aus dem tausendfach beleuchteten Leben dieser glamourfreien Dame noch Honig zu saugen. Und dennoch: Sie haben es wenigstens versucht.
Hier sind die bemerkenswertesten Merkel-Magazine in der Einzelwertung:
DER KLASSIKER
- „Spiegel Biografie: Die Ära Merkel – Bilanz einer Kanzlerschaft“
- Preis: 9,90 Euro, 132 Seiten
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© Quelle: Spiegel Biografie Merkel
Der Titel:
Griesgrämig, elektronisch nachgeschärft und mit stahlblauen Augen blickt eine müde Kanzlerin ohne den Hauch eines Lächelns als eiserne Lady in die Kamera. Wer ganz nah heranzoomt, kann in ihren Pupillen ganz klein Friedrich Merz gespiegelt sehen. Der gesamte Titel strahlt sachlich-seriöse Freudlosigkeit aus.
Der Inhalt:
Über jeden Zweifel erhaben. Hier sind Profis am Werk. Auf 132 Seiten macht die „Spiegel“-Redaktion keinen Hehl daraus, dass das Sonderheft in weiten Teilen mit gut abgehangener Archivware gefüllt wurde. Die „Bilder der Macht“ zeigen Merkel-Momente, bei denen selbstredend auch das tiefe Dekolleté bei der Eröffnung der neuen Oper in Oslo 2008 nicht fehlt, Seriosität hin oder her. Die britische Althistorikerin und Frauenrechtlerin Mary Beard lobt artig: „Sie hat es großartig gemacht.“ Und in Anerkennung seiner eigenen Verdienste druckt „Spiegel Biografie“ auch noch einmal 48 „Spiegel“-Titel mit Merkel ab, von „Was will (kann) Angela Merkel?“ (2005) bis „Angela mutlos“ (2008), von „Die neue Selbstgefälligkeit der Angela M.“ (2013) bis „Nach ihr die Finsternis“ (2019). Die Covergalerie zeigt vor allem eines: die im Nachhinein doch eher putzige Überdrehtheit der Titelredaktion.
Die originellste Idee:
In einer mehrseitigen Bilderstrecke porträtiert „Spiegel Biografie“ Kinder auswärtiger Eltern, die ihren Nachwuchs aus Dankbarkeit nach der Kanzlerin benannt haben. Darunter ist ein sechsjähriges Mädchen, dessen Vater aus Syrien nach Deutschland geflohen ist. Auch das Ende 2015 geborene Kind trägt einen Namen, an dem das Duisburger Standesamt nichts auszusetzen hatte: Es heißt Angela Merkel. Mit Vornamen.
Der seltsamste Beitrag:
In einer längeren Bildbetrachtung mutmaßt „Spiegel Biografie“, Merkel könnte ein Urlaubsfoto, auf dem sie 2019 bei der Lektüre von Stephen Greenblatts Trump-Kritik „Der Tyrann“ auf einem Südtiroler Hotelbalkon zu sehen ist, absichtlich inszeniert haben. Darauf deuteten nicht zuletzt „die fein gewölbten Haare am oberen Hinterkopf“ hin. „Wollte Angela Merkel der Weltöffentlichkeit zeigen, was für ein Buch sie da liest?“, raunt Beyer, zitiert shakespearsche Königsdramen und zieht auch Merkels DDR-Biografie als mögliche Ursache für die Neigung heran, politische Metasignale auszusenden. Denn „im Unrechtsstaat konnten Andersdenkende politisch nur überleben, wenn sie indirekt kommunizierten“.
Hatte Merkel womöglich die Nase voll von Paparazzifotos aus dem jährlichen Sommerurlaub, auf denen sie mit Karohemd und Bettfrisur aussah wie Pumuckl als Holzfäller? Wollte sie Trump so richtig eins auswischen, indem sie öffentlich ein Buch liest? Wir wissen es nicht. Frau Beyer weiß es nicht. Aber es könnte ja vielleicht, eventuell, möglicherweise, gewissermaßen ziemlich sicher sein. Oder auch nicht.
Optik und Gestaltung:
Der „Spiegel“ halt. Klare Linien bis hin zur Biederkeit, keinerlei Konventionsbrüche, optisch trocken wie Schiffszwieback, aber wirkungsvoll.
Interessant für:
Historiker ohne Internetanschluss, Bibliotheken und Berliner Politjournalisten.
Gesamtwertung:
vier von fünf Merkels 🙍🙍🙍🙍
♦♦♦
DAS HALBSERIÖSE HEFT
- „Focus Sonderedition: Die Kanzlerin. Wer ist sie wirklich?“
- Preis: 6,90 Euro, 132 Seiten
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© Quelle: Focus Merkel
Der Titel:
Milde und mysteriös lächelnd wie die Mona Lisa blickt die Mona Merkel vom Cover, das in seiner Rot-Schwarz-Optik ein bisschen wirkt wie die SPD-Wahlplakate zur Bundestagswahl 2021. Bloß dass die SPD-Kandidatin nicht Merkel hieß, obwohl das inhaltlich sicher ohne große Scherereien gepasst hätte. Nur die Augen blitzen blau wie schon beim „Spiegel“. Offensichtlich üben die merkelschen Augen eine gewisse Faszination auf Berliner Magazinjournalisten aus. „Die Kanzlerin. Wer ist sie wirklich?“, fragt dazu die Schlagzeile. Als gebe es, was Merkels Identität angeht, tatsächlich noch offene Fragen nach all den Jahren. Aber die deutsche Politik ist halt nicht „The Masked Singer“. Unwahrscheinlich, dass sich hinter der Merkel-Maske in Wahrheit Hape Kerkeling oder Ross Antony verbirgt. Insofern ist die prahlerische Frage albern. Wer ist sie wirklich? Sie ist Angela Merkel, nach der Queen so ungefähr die bekannteste Frau der Welt.
Der Inhalt:
Fotos, Fotos, Fotos – und immer an die Leser denken. Der „Focus“ ist eher nicht so bekannt für seine brillanten längeren Essays. Bei Burda sieht man keinen Anlass, beim Merkel-Sonderheft von diesem Prinzip abzuweichen. Stattdessen gibt’s gleich mal 48 Fotos auf den ersten 60 Seiten, darunter als Doppelseite natürlich auch den tiefen Ausschnitt von 2008, der die Redaktion zu der Bildzeile inspirierte: „Sie kann auch Glamour, für manche verwirrend.“ Stolze acht Autoren mühen sich dann in einer Chronik, der Merkel-Karriere gerecht zu werden. Zudem lässt man immerhin 29 (!) sogenannte Weggefährten zu Wort kommen, darunter Reinhold Messner („sie ist viel zäher, als die meisten denken“) und Luisa Neubauer („Angela Merkel hat es irgendwie geschafft, ihre ökologische Untätigkeit mit ihrem Politikverständnis so übereinander zu bringen, dass es am Ende plausibel klang“). Eher rätselhaft bleibt die opulente Bilderstrecke des renommierten Kanzlerinnenfotografen Andreas Mühe, Sohn von Schauspieler Ulrich Mühe, dessen „ikonische Aufnahmen“ („Focus“) Frau Merkel als einsamen Menschen zwischen grauer Städte Mauern meist von hinten zeigen. Der Erkenntnisgewinn ist übersichtlich. Mit derlei Düsternis beginnen üblicherweise WDR-„Tatorte“.
Die originellste Idee:
Der deutsch-polnische Autor Andrzej Stach spürt in einem cleveren und lesenswerten Stück aus Polen den familiären Wurzeln von Angela Merkel nach – ihr Großvater wurde 1896 unter dem polnischen Namen Ludwik Kazmierzak in Posen geboren. Der beste Text des Heftes ist also ein Gastbeitrag.
Der seltsamste Beitrag:
Ein früherer Nachbar erzählt in einer dünnen Story umfänglich, wie Angela Merkel auch mal im Discounter einkauft und in der Uckermark entspannt. No shit, Sherlock?
Optik und Gestaltung:
Der „Focus“ sieht heute immer noch aus wie der „Spiegel“ früher – mit Trennlinien zwischen den Spalten, fetten Anläufen bei den Bildunterschriften und rotem Rand auf dem Titelbild. Die Opulenz in Bilderfragen freilich ist wenigstens konsequent, die Recherchetiefe der Bildredaktion erfreulich.
Interessant für:
Gemäßigt Politinteressierte, die nicht mit dem „Spiegel“ gesehen werden möchten und spätestens nach 5000 Zeichen ungeduldig werden.
Gesamtwertung:
drei von fünf Merkels 🙍🙍🙍
♦♦♦
DAS ORIGINELLE HEFT
- „16 Jahre Angela Merkel – Die Kanzlerin“
- Preis: 10 Euro, 124 Seiten
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© Quelle: Merkel Magazin
Der Titel:
Ohne Mund, Nase und Augen „blickt“ eine Scherenschnitt-Merkel vom Titel herab, der in seinem frischen Farbmix aus Rot, Gelb, Grün insgesamt die Ampelregierung vorwegzunehmen scheint. Die Silhouette der Kanzlerin genügt, um sie zu identifizieren. Die geknöpfte Joppe ist unverkennbar. Ein bisschen Namedropping gibt’s links unten dazu – in einer Liste der beteiligten prominenten Autorinnen und Autoren von der großartigen Samira El Ouassil bis zu Michalis Pantelouris, von Ulrike Posche bis zum praktisch konkurrenzlosen Micky Beisenherz.
Der Inhalt:
Das Magazin ist laut Herausgeber und Mastermind Oliver Wurm zwar „der letzte Rückblick, der an den Kiosk geht“, dafür jedoch „der ausgeruhteste und vollständigste. Der Bunteste sowieso.“ Dem ist nicht zu widersprechen. Wurm ist einer der originellsten Magazinmacher des Landes. Der Hamburger hat vielfach bewiesen, dass Print nicht nur lebt, sondern selbst dann höchst vital daherkommen kann, wenn der Inhalt ein paar Jahrzehnte (wie das deutsche Grundgesetz) oder gar Jahrtausende (wie das Neue Testament) auf dem Buckel hat. Für „Die Kanzlerin“ hat er die Magazinelite des Landes versammelt und ein kleines Feuerwerk für Polit- und Design-Nerds geschaffen. Ein Wurm-Heft ist immer eine Vitalkur für jedes Thema, das es verdient hat, entdeckt oder wiederentdeckt zu werden.
Die originellste Idee:
Wo soll man beginnen? Ein seidiges kleines Extraheft versammelt liebevoll sämtliche insgesamt 250 Eilmeldungen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) aus Merkels Kanzlerschaft – und dpa-Chefredakteur Sven Gösmann kommentiert sie im Muttermagazin. Samira El Ouassil seziert Merkels Ewigkeitssatz „Wir schaffen das“. Micky Beisenherz bewertet das seltsame Label „Mutti“ („eine Art verbales In-den-Schoß-Zurückkriechen, der Ausdruck totaler Behagenssehnsüchte“). Jan Schwochow, Experte für digitale Visualisierungen, gießt die Ära Merkel in präzise, erkenntnisreiche Infografiken. Und Merkel-Experte Andreas Rinke erklärt das biografische Phänomen A. M. von A bis Z. Ein einziger Genuss.
Der seltsamste Beitrag:
Der skurrilste Beitrag ist zugleich der schönste: Auf einem DIN-A4-Bogen gibt’s 16 herzerfrischende „Wir schaffen das!“-Aufkleber für politische Poesiealben, Liebesbriefe oder sonstige analoge Anwendungszwecke. Nimm das, Panini!
Optik und Gestaltung:
Das Magazin wirkt zeitlos schön und liebevoll inszeniert wie der politnerdige Cousin von „11 Freunde“. Verantwortlich dafür ist Creativ Director Andreas Volleritsch, dem es mit einer gewissen Liebe zum Spielerischen gelingt, ein Trocken-Brot-Thema wie 16 Jahre Merkel-Kanzlerschaft zu einem haptisch-optischen Genusserlebnis zu machen. Warum? Weil er kaum jemals das Naheliegende tut, sondern sich stets Zeit für die zweite oder dritte Idee nimmt. Das Ergebnis ist ein Schmuckstück aus einem Guss, das trotz (oder wegen) großzügiger Weißräume frisch, aufgeräumt und fröhlich wirkt.
Interessant für:
Politnerds, Magazinjunkies, bibliophile Leser und Genussfreunde
Gesamtwertung:
fünf von fünf Merkels 🙍🙍🙍🙍🙍
♦♦♦
DAS HISTORISCHE HEFT
- „Zeit Geschichte: Die Kanzler – Von Bismarck bis Merkel – 150 Jahre deutsche Geschichte“
- Preis: 8,50 Euro, 124 Seiten
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© Quelle: Merkel Bismarck Zeit
Der Titel:
Griesgrämig blickt der, nun ja, Reichs-Altkanzler Otto von Bismarck neben seiner blütenfrischen Nachfolgerin von einem nachtschwarzen Titel. Als Paar erinnern beide an das kochende WDR-Ehepaar Martina und Moritz, es fehlt nur ein Sträußlein Rosmarin und Moritz’ fliederfarbener Pullunder, gern locker um die Schultern geworfen. Ein kurzes Stutzen gibt’s bei der Schlagzeile: „Die Kanzler“. Ist das ein keckes Wortspiel wie „der Andrea Berg“? Oder schlicht Plural? Heißt es nicht „der Kanzler“ und „die Kanzlerin“? Oder, wenn schon, „die Kanzler und Kanzlerinnen“? Aber Merkel dürfte sich mitgemeint fühlen.
Der Inhalt:
Das „Zeit Geschichte“-Sonderheft versammelt nicht weniger als 30 deutsche Kanzler (und eine Kanzlerin). Darunter sind Namen, die außerhalb von Historikerkreisen längst dem Vergessen anheimgegeben sein dürften oder es gar nicht erst ins kollektive Gedächtnis geschafft haben (Leo von Caprivi, jemand? Wilhelm Cuno? Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst?). Inhaltlich schwingt viel Respekt für den charakterfesten Abgang der Kanzlerin mit: „So selbstbestimmt und überwiegend freiwillig, wie Angela Merkel aus dem Amt scheidet, hat dies keiner ihrer 30 Vorgänger geschafft“, schreibt Chefredakteur Frank Werner. Es folgen starke Essays über „Ein deutsches Amt“ sowie die herausragenden Gestalten der deutschen Kanzlerahnenreihe, chronologisch sortiert nach Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik. Um Merkel selbst geht es nur auf neun von 124 Seiten, zu Wort kommen Weggefährten, Kritiker und Historiker wie Claudia Roth („diese Politikerin wird Deutschland fehlen“), ein überraschend versöhnlicher Dieter Nuhr („Die Geister, die von der ‚Merkeldiktatur‘ faselten, haben das – wie so vieles – nicht verstanden. Frau Merkel wurde viermal frei gewählt. Herzlichen Glückwunsch!“), Margot Käßmann („die Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel war insgesamt gut für unser Land“) und Herfried Münkler („wissensbasierte Umsicht und Vorsicht bewahrt vor Fehlern“).
Die originellste Idee:
Die Ära Kohl würdigt die Redaktion in zwei parallel gedruckten Betrachtungen. Der Mainzer Geschichtsprofessor Andreas Rödder bilanziert die Kohl-Jahre eher wohlwollend („historische Entscheidungen“), der Historiker und „taz“-Mitgründer Michael Sontheimer eher kritisch („Stillstand und ‚Bimbes‘“). Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte – in diesem Fall: im unbedruckten Weißraum.
Der seltsamste Beitrag:
Als Dreingabe liefert „Zeit Geschichte“ ein Faltposter aller 31 Kanzlerinnen und Kanzler seit 1871. Darunter ist selbstredend als Nummer 23 auch ein gewisser Herr Hitler. Die Frage, wer sich ein Schaubild der deutschen Kanzler in die Stube pinnen sollte, beantwortet die Redaktion nicht.
Optik und Gestaltung:
Beim Layout folgt man dem berühmten Adenauer-Wahlslogan von 1957: „Keine Experimente.“ Ruhig, sortiert und überraschend farbig für die Zeit, die sie abbilden, kommen die Seiten daher. Eine kleine grafische Auflockerung mit einer Statistik, einer Zahlenspielerei oder einem Zitat hätte nicht schaden können. Doch das Ziel war kein Heft zum schnellen Durchblättern, sondern ein Genussmagazin für intelligente Zeitgeistentschlüsselung. Das ist gelungen.
Interessant für:
Historisch interessierte Connaisseure mit einem Hang zu klugem Parlando – und viel Zeit.
Gesamtwertung:
vier von fünf Merkels 🙍🙍🙍🙍
♦♦♦
DAS UNFASSBARE HEFT
- „My Illu – brillante Unterhaltung“
- Preis: 2,80 Euro, 124 Seiten
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Ein Autounfall von einer Zeitschrift: „MyIllu - brillante Unterhaltung“.
© Quelle: Merkel MyIllu
Der Titel:
Leid und Not, wohin das Auge sieht: „Mein Mann langweilt mich im Bett!“, „Das war der schlimmste Tag meines Lebens“, „Hämorrhoiden, Juckreiz, Verstopfung – wenn der Po Hilfe braucht!“, „Schockierende Fakten über Ärztepfusch!“, „Brutaler Sex-Überfall“. Aber dafür gibt’s ja für die seelische Balance „Herbstglück aus dem Ofen“ und die „Lieblingsplätzchen der Royals“. Und inmitten des Titelblatts steht Angela Merkel, offenbar mit einer billigen Foto-App nachgeschminkt. Die Schlagzeile: „Lebenstraum geplatzt!“ Und das ist nur das Titelblatt.
Der Inhalt:
Die „My Illu“ ist, streng genommen, kein Merkel-Sonderheft, liefert aber ohne Zweifel die schratigste Merkel-Abschiedsgeschichte. Das Heft ist ein einziger Autounfall von einer Zeitschrift. Kundinnen und Kunden, die „My Illu“ mögen, mögen auch: den Backofen schrubben, André Rieu, Ohrringe aus dem Teleshop, selbst gebastelte Mobiles aus zerstoßenen Hustensaftfläschchen und „Sprüche fürs Herz“ bei Facebook („das Lächeln ist ein Fenster, durch das man sieht, ob das Herz zu Hause ist“). Apropos Gesundheit: „Vorsicht bei tödlicher Sperma-Allergie“ (Seite 72)! Im Kern geht’s wie immer bei der gelben „Knallpresse“ („Topf voll Gold“/„Übermedien“) um das erbauliche Gefühl, sich trotz eigener emotionaler Unwucht am Elend anderer Leute zu laben.
Und was ist nun mit Angela Merkels „geplatztem Lebenstraum“? Ist sie in diese Kanzlerinnensache nur so reingerutscht? Wollte sie eigentlich Rinderzüchterin oder Ballerina werden? Merkel blicke „einer ungewissen Zukunft entgegen“, meldet „My Illu“, „und alle bisherigen Pläne sind über den Haufen geworfen“. Der Grund: Ehemann Joachim Sauer wird angeblich gelegentlich zu Seminaren an der Akademie der Wissenschaften in Turin reisen, um dort zu lehren. Aus der Traum also vom beschaulichen gemeinsamen Eheglück im Spätsommer des Lebens! Es droht Einsamkeit und Verderben! „Fast scheint es so, als wolle er die gemeinsame Zeit mit seiner Frau hinauszögern.“ Ja! Fast! „Geht auch jeder bald seines Wegs allein?“ Ja, wenn man das bloß wüsste!
Die originellste Idee:
Trotz intensiver Suche ist es nicht gelungen, auch nur eine einzige originelle Idee in „My Illu“ auszumachen. Das gilt auch für das proktologische Frage-Antwort-Desaster auf Seite 66 („Warum riechen Pupse faulig?“).
Der seltsamste Beitrag:
Die seltsamsten Beiträge finden sich auf den Seiten 1 bis 124.
Optik und Gestaltung:
Überladen, quietschig und marktschreierisch wie das gesamte Genre. Wer „My Illu“ liest, muss hinterher duschen.
Interessant für:
Menschen, die sich nicht für Politik interessieren. Und für sonst auch nichts außer Rezepten und anderer Leute Ärger.
Gesamtwertung:
eine von fünf Merkels 🙍
♦♦♦
DAS OSTDEUTSCHE HEFT
- „SUPERillu BIOGRAFIE: 16 Jahre Angela Merkel - Die Bilanz“
- Preis: 5 Euro, 116 Seiten
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"Persönliche Einblicke": Die "SUPERillu BIOGRAFIE" über Angela Merkel.
© Quelle: Burda
Der Titel:
Man muss sich schon ziemlich SUPER finden, wenn man gleich viermal „SUPERillu“ auf den Titel druckt. Der Rest des Covers aber wirkt freundlich-seriös, die Perspektive ist klar ostdeutsch (“Wie eine Ostdeutsche zur mächtigsten Frau der Welt wurde“, „Mit Gastbeiträgen von Gregor Gysi, Reiner Haseloff und Manuela Schwesig“), aber warum auch nicht? Merkel selbst lächelt keck, ganz unten verspricht die Redaktion „persönliche Einblicke“ in „ihre private Welt abseits der großen Politik“. Das kann man so machen.
Der Inhalt:
Von „Ihrem Kampf um die Einheit Europas“ bis zu den „Männern, die weichen mussten“, von „Menschlichkeit kontra Staatsräson“ bis zur „Kanzlerin der freien Welt“ - die „SUPERillu“ wagt den Deep Dive in die politische Bilanziererei, überraschend weit entfernt von einem bunten Blättchen. Der Versuch der Zeitgeistentschlüsselung gelingt in weiten Teilen, auch wenn es ab und an etwas zu schwerblütig wird. Für den albernen Magazintitel „SUPERillu“ kann die Redaktion ja nichts. Es waren die Neunziger. Da war man so bei Burda.
Die originellste Idee:
„Merkels polnische Wurzeln“ - ein Report mit exklusiven Fotos und stimmiger Recherchetiefe, der tatsächlich weiter führt.
Der seltsamste Beitrag:
„Merkel und die SUPERillu“ - eine kleine Nabelschau aus dem eigenen publizistischen Schaffen im Zusammenhang mit der Kanzlerin. Das muss nicht sein und wirkt als Eigen-PR-Stunt fehl am Platz. Zweiter seltsamer Beitrag: Das „Fiasko von Afghanistan“ als eigene Extrabeilage - das zwar zweifellos der Aktualität zum Zeitpunkt der Drucklegung geschuldet. Als Thema für eine Sonderbeilage in einem Merkel-Abschiedsmagazin passt es kaum.
Optik und Gestaltung:
Die Aufmachung wirkt etwas zerfahren. Viele Schriften, viele Effekte von Unterlegungen bis Schatten. Das Layout wirkt unruhig und etwas stressig. Mut zur Ruhe hätte dem Blatt gut getan. Von den Typogewittern anderer „weicher“ Titel (s.o.) ist die „SUPERillu“ aber weit entfernt.
Interessant für:
Ostdeutsche Leser, die sich der Tatsache versichern wollen, dass die „ostdeutsche“ Kanzlerin wirklich ostdeutsch war und ostdeutsche Perspektiven mitbrachte, die wichtig für Ostdeutsche waren.
Gesamtwertung:
Drei von fünf Merkels 🙍🙍🙍