#witchtok: Warum Tiktok neuerdings zur Plattform für moderne Hexen wird
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Die Videoplattform Tiktok ist zu einem Treffpunkt für zahlreiche selbst ernannte Hexen geworden.
© Quelle: Pixabay/Imago Images/Photothek/RND Montage
Ehe Ashley Ryan alias „Pythian Priestess“ zu ihrer Anhängerschaft spricht, hat sie das lange schwarze Haar meist sorgsam frisiert, einen breiten Lidstrich gezogen, ihre Lippen geschminkt und auffallende Ohrringe angelegt. Dann schaltet sie die Kamera ein und gibt ihren rund 360.000 Followern in kurzen Videos Einblicke in ihr magisches Leben: Beispielsweise teilt sie ihr Wissen über Planetenstellungen, mystische Rituale und Symbole, das Tarotkartenlegen und Kristalle, aber auch über alternative Heilmethoden wie Akupunktur oder Vakuummassagen, die auf natürliche Weise eine Reihe von Schmerzen und Erkrankungen lindern sollen.
Der Name „Pythian Priestess“ erinnert nicht umsonst an die Pythia, die jeweils amtierende weissagende Priesterin im griechischen Orakel von Delphi. Diese saß in einer Kammer des Apollontempels über einem Erdspalt, aus dem ein Gas austrat und die Pythia in eine Art Trance versetzte, während der sie ihre Prophezeiungen aussprach.
#witchtok trendet auf Tiktok
In einem ihrer Posts erklärt die „Pythian Priestess“, dass sie sich mit Titel der Priesterin in den Dienst der Gemeinschaft stelle: „So wie ein Pastor im Dienst seiner Gemeinde steht, bin ich ein Sprachrohr für die Götter. Ich bin hier, um denen zu helfen, die sich nicht mit dem Geistern verbinden können, und um ihnen zu helfen, ihren spirituellen Weg zu finden.“
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Wer außerhalb der sozialen Medien nach der selbsternannten Priesterin sucht, stößt auf ihren Etsy-Shop für allerlei zauberisches Zubehör – und auf ihre Webseite, wo sie zudem in vier Level gestaffelte Hexen-Kurse anbietet: Etwa eine Mitgliedschaft bei den „Suchenden des Okkulten“, um den Abschluss des höchsten Levels zu erreichen, kostet 25 Dollar.
Die „Pythian Priestess“ ist eine von zahlreichen Spiritualisten, die sich „witches“ – also „Hexen“ – nennen und vor allem auf der 60-Sekunden-Video-Plattform Tiktok auftreten. Ergänzt sind ihre Posts mit dem Hashtag #witchtok, der auf Tiktok jetzt bereits eine Reichweite von 9,5 Billionen Views verzeichnet.
Heutiges Hexenbild stammt aus dem Mittelalter
Mit dem Hexenbild, das in den meisten Ländern der Erde heute noch existiert, hat die „WitchTok“-Bewegung nicht viel zu tun. Denn das Bild, das die meisten Menschen heutzutage mit dem Begriff Hexe“ assoziieren, stammt maßgeblich aus dem Mittelalter. Damals schrieb man Hexen die Schuld für zufällige und daher unerklärliche Begebenheiten zu und dichtete ihnen eine Verbindung mit Dämonen und dem Teufel an.
In der Frühen Neuzeit, also nach dem Spätmittelalter, kamen weitere erfundene Attribute hinzu: dass sie auf Besen, Stöcken, Stühlen oder ähnlichen Gegenständen durch die Luft flögen, dass sie bei einem Hexensabbat regelmäßig geheime nächtliche Feste veranstalteten, dem Teufel ihre Seele übereignet und dafür magische Kräfte erhalten hätten, die sie nur dafür einsetzten, um anderen Schaden zuzufügen. Kriege, Missernten, Seuchen und andere Krisen verstärkten den Glauben an die Bösartigkeit der Hexen, die für all das verantwortlich gemacht wurden.
Tiktok-Hexen werden von „Spirit Guides“ begleitet
Dagegen lässt sich die spirituelle Orientierung der meisten modernen Hexen am ehesten in den Neopanagismus einordnen: Diese Strömung beinhaltet verschiedene Elemente aus antiken, heidnischen, germanischen und slawischen Glaubensrichtungen. So wünscht etwa eine Nutzerin namens @charmedndangerous in einem ihrer Posts „Happy Samhain“.
Samhain ist eines der vier großen keltisch-irischen Feste, während der sich der Legende nach besonders gut Kontakt zu den mythischen Bewohnern der sogenannten Anderswelt aufnehmen lässt. Oft taucht auch das Pentakel-Symbol auf, ein in einen Kreis eingefasstes Pentagramm. Beispielsweise die @chaoticwitchaunt, der auf Tiktok fast eine Million Nutzer folgen, trägt das antike griechische Symbol bei zahlreichen Videos in Form von silberfarbenen Ohrringen.
Darüber hinaus glauben viele der Tiktok-Hexen daran, dass sogenannte „Spirit Guides“ sie begleiten. Der Vorstellung nach sind das unsichtbare Geisterwesen in Gestalt verstorbener Angehöriger oder mythologischer Gottheiten wie der nordischen Göttin Freya, der keltischen Göttin Morrigan oder der griechischen Göttin Aphrodite, die denjenigen leiten und beschützen. Welche Botschaften diese vermitteln wollen, lässt sich beispielsweise durch Tarotkartenlegen herausfinden, wie Caroline Cusanelli alias @spiritualccare zeigt.
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Altbewährte Praktiken kommen zum Einsatz
Viele der auf Tiktok ausgestellten Rituale entpuppen sich bei genauerem Hinsehen zudem als gängige Praktiken – etwa die Meditation, mit der manche Nutzerinnen Kontakt mit ihren „Spirit Guides“ aufnehmen wollen. So abwegig, wie es zunächst klingt, ist das jedoch nicht.
„In psychischen Ausnahmesituationen oder bei einer entsprechenden Veranlagung können Einsichten in Form von Visionen oder Eingebungen in sprachlicher Form auftreten“, sagt Ulrich Ott vom Bender Institute of Neuroimaging an der Universität Gießen. Der Diplom-Psychologe forscht unter anderem dazu, wie sich veränderte Bewusstseinszustände herbeiführen lassen und wie sich Meditation auf die Selbst- und Realitätswahrnehmung auswirkt. „Ob man diese nun Schutzengeln, der eigenen Intuition oder dem Unbewussten zuschreibt, ist aus meiner Sicht zweitrangig“, ergänzt er.
Entscheidend sei eher der tiefe Eindruck, den diese Erfahrung hinterließe. Mit Magie hat das jedoch wenig zu tun – eher mit Neurobiologie: Während tiefer Meditation verändere sich die Gehirnaktivität deutlich, erklärt Ott. Dadurch könne sich dann das Ichgefühl, aber auch Raum- und Zeiterleben sich deutlich verändern. „In der Regel erfordert es einige Übung, diese besonderen Zustände zu erreichen, es gibt aber auch Menschen, die eine Veranlagung für solche Zustände haben und diese leichter erreichen“, sagt er.
Tiktok-Hexen betreiben „Shadowwork“
Auch für andere altbekannte Dinge existieren neue, geheimnisvolle Begriffe in der WitchTok-Welt: Vergangene Emotionen und Erlebnisse aufzuarbeiten, heißt dort beispielsweise „Shadowwork“. Ebenfalls beliebt ist das „manifesting“, auf Deutsch etwa „Manifestieren“. Dabei konzentriert man sich auf eine bestimmtes Ziel, nimmt in Gedanken Kontakt mit dem Universum auf und erschafft aus seinem Ziel eine positive Zukunftsvision, die in vielen Fällen auch eintrifft.
Zauberei? Nicht wirklich, sagt der Psychologe Ulrich Ott und verweist auf den psychologischen Begriff der selbsterfüllenden Prophezeiung. „Wenn Sie sich innerlich ganz auf ein Ziel ausrichten, wird dadurch die Wahrnehmung selektiv gelenkt und auch das Verhalten. Ob allerdings ‚das Universum‘ auch tatsächlich ‚liefert‘, hängt davon ab, wie wahrscheinlich das gewünschte Ziel ist.“
Der Seele Gutes tun – mit spirituellen Praktiken
Doch wer hinter all dem nur eine große Zaubershow wittert, wird dem Ganzen eher nicht gerecht. Stattdessen lässt sich der Trend zur Spiritualität, der insbesondere junge Menschen anspricht, eher als eine Art Wellnessbewegung für Körper und Geist interpretieren. Auch Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster, sagt: „In esoterischen und spirituellen Praktiken wie Bachblütentherapie, Ayurveda, Tai Chi, Yoga, Zen-Meditation und anderem erfahren Menschen geistige, emotionale und körperliche Kräftigung.“
Ihm zufolge dienen derlei Praktiken einerseits als willkommene Unterbrechung des Alltags, andererseits oft als Instrumente, um den Anforderungen des Alltags besser gewachsen zu sein. Gleichzeitig suchten spirituelle Menschen Pollack zufolge nach einem tieferen Sinn im Leben und nach einer Möglichkeit, Kontakt zu einer höheren Wirklichkeit aufzunehmen. „Viele hoffen, auf diese Weise ihr religiöses Erlebnisvermögen steigern, Kraft und Lebensmut tanken und ein erfüllteres Leben führen zu können.“