Ein Plädoyer für einen wohlwollenden Umgang

Warum wir Freundlichkeit brauchen – besonders in schwierigen Zeiten

Bitte recht freundlich – das kann Balsam für die Seele sein.

Bitte recht freundlich – das kann Balsam für die Seele sein.

Hannover. Es ist eine ganz alltägliche Situation: Die Schlange vor der Supermarktkasse ist lang. Menschen mit reichlich gefüllten Einkaufswagen stehen vor und hinter einem. Und man selbst hat nur ein Stück Parmesan und eine Flasche Rotwein im Korb. Während man noch so überlegt, ob die Spaghetti nicht vielleicht auch ohne geriebenen Käse und einen Schluck Wein schmecken könnten, dreht sich die Kundin vor einem um, mustert den Inhalt des Einkaufskorbs und sagt: „Gehen Sie ruhig mal vor mit Ihrem Minieinkauf.“

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Eigentlich bringt das kaum Zeitersparnis. Und weder hat man ein weinendes Kind an der Hand, noch steht das Auto im Halteverbot. Dennoch hebt so ein freundliches Angebot, das wohl jeder und jede schon mal erlebt hat, die Stimmung. Es tut gut, freundlich behandelt zu werden – im Moment ganz besonders.

In den vergangenen zwei Pandemiejahren sind viele Menschen dünnhäutiger und manche sogar überempfindlich geworden. Andere verlieren schnell und aus nichtigem Anlass die Beherrschung. Die Sorge vor einer Infektion, die Anspannung im Job und Diskussionen in der Familie und im Freundeskreis über den Sinn und Unsinn mancher Maßnahmen und über eine mögliche Impfpflicht zehren bei vielen an den Nerven. Dazu kommen die Sorgen wegen des Krieges in der Ukraine und die Angst vieler Menschen vor einem Atomschlag.

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Da kann man ein freundliches Wort oder eine nette Geste als Balsam empfinden.

Eindrücklich beschreibt der Berliner Autor Daniel Schreiber in seinem Buch „Allein“, wie wohltuend er die „kindness of strangers“, wie er es nennt, also die Freundlichkeit von Fremden empfand, als er zu einem dreiwöchigen Aufenthaltsstipendium in einem Schweizer Hotel eingeladen war. Der 44-Jährige fühlt sich einsam, am Rand einer Depression, als er die „Literatur-Residenz“ antritt. Doch nicht allein wegen der wunderschönen Natur am Vierwaldstätter See und der Wanderungen, die Schreiber regelmäßig unternimmt, geht es ihm bald besser: Dazu tragen auch die Großzügigkeit und Nettigkeit bei, die er dort erlebt – eine „grundsätzliche, umsichtige Freundlichkeit“. Damit ist nicht nur die professionelle Aufmerksamkeit von Angestellten der gehobenen Hotellerie gemeint. Vielmehr zeichnet die Mitarbeiter – vor allem Freunde, Freundinnen und Bekannte der Hotelbesitzer – eine wohlmeinende Zugewandtheit aus. Und auch solche flüchtigen Begegnungen, so Schreiber, seien bedeutsam für uns und unser inneres Gleichgewicht.

„Freundlichkeit ist etwas, das manchmal unter dem Verdacht des Langweiligen und Unaufrichtigen steht“, schreibt der Essayist. Zudem scheine ihr etwas anzuhaften, das dem neoliberalen Geist unserer Tage zuwiderlaufe: „Wenn Gesellschaften ihre Mitglieder wie selbstverständlich in Gewinnende und Verlierende aufteilen, führt das vielleicht zwangsläufig dazu, dass nur jene Menschen freundlich sind, die es nötig haben.“

Wie wichtig Freundlichkeit in der modernen Leistungsgesellschaft sein kann, interessiert die Wissenschaft seit einigen Jahren verstärkt. Vor drei Jahren wurde etwa an der Universität von Kalifornien in Los Angeles das erste interdisziplinäre Forschungsinstitut für Freundlichkeit gegründet, das Bedari Kindness Institute. Bereits 2009 veröffentlichten der britische Psychoanalytiker Adam Phillips und die US-amerikanische Historikerin Barbara Taylor ihr Buch „Freundlichkeit. Diskrete Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Tugend“. Freundliches Verhalten werde oft als suspekt empfunden, schreiben die beiden. Sie meinen, dass wir Liebenswürdigkeit oft für falsche Freundlichkeit halten – sprich: für strategisch eingesetzt – oder freundlichen Menschen „verschleierten Narzissmus“ unterstellen: Sie seien schließlich nur deshalb nett, weil ihnen das ein gutes Selbstgefühl verschaffe und sie sich nach Bestätigung sehnten.

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Da mag etwas dran sein. Die überfreundliche Nachbarin kommt einem manchmal eher aufdringlich als angenehm vor. Und dass der eine Kollege immer nur dann ein Lächeln aufsetzt, wenn der Chef den Raum betritt oder sich bei der Onlinekonferenz dazu schaltet, kommt einem tatsächlich falsch vor. Doch ist das ein Grund, Freundlichkeit per se zu misstrauen? Zumal sich viele selbst zu den freundlichen Mitmenschen zählen. Bei einer Umfrage des Portals Statista zu der Aussage „Ich bin jemand, der rücksichtsvoll und freundlich mit anderen umgeht“ fanden knapp 47 Prozent der Frauen in Deutschland, das träfe „voll und ganz“ auf sie zu. Rund 36 Prozent antworteten mit „trifft zu“. Knapp 29 Prozent der Männer finden „voll und ganz“, dass sie rücksichtsvoll und freundlich mit anderen umgehen. 39 Prozent antworteten, dass das auf sie zutreffe.

Dass so viele Deutsche sich – laut der Umfrage – rücksichtsvoll und freundlich benehmen, deckt sich möglicherweise nicht ganz mit den eigenen Alltagserfahrungen und schon gar nicht mit dem Klischee vom Land der Dauernörgler. Wissenschaftlich untermauert ist hingegen, dass freundliche Menschen zumeist zufriedener sind als unfreundliche – und auch gesünder. Freundlichkeit könne, heißt es etwa beim Bedari Kindness Institute, den Blutdruck senken und Depressionen mindern. Wohl nicht von ungefähr veröffentlichte die Techniker Krankenkasse vor Kurzem in ihrem Onlineportal Übungen, wie man seine Freundlichkeit entdecken könne.

Ist Freundlichkeit nur „verschleierter Narzissmus“?

Was Phillips und Taylor in ihrem Buch als „verschleierten Narzissmus“ bezeichnen, kann ja tatsächlich eine angenehme Wirkung haben: Wer freundlich ist, zeigt eine gewisse emotionale Großzügigkeit – und das hebt das Selbstwertgefühl ungemein. Zumal dann, wenn der oder die Andere auf solch ein Angebot („Ich lasse Sie in der Schlange vor der Supermarktkasse gerne vor, wenn Sie mögen“) eingeht.

Freundlichkeit bedeutet ja schließlich nicht, seine Bedürfnisse nicht zu äußern.

Melanie Klaes,

Trainerin bei der Agentur für Freundlichkeit

So gesehen, ist es also durchaus klug, seine Mitmenschen und auch sich selbst freundlich zu behandeln. Statt – oft einer überholten Idee von Männlichkeit folgend – schroffes Verhalten und einen betont rauen Umgangston zu kultivieren, weil das angeblich „ehrlicher“ und „direkter“ ist. Oder statt durch eine übertriebene Kurzangebundenheit zu signalisieren, wie wenig Zeit man doch hat – weil man schließlich so wichtig ist.

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Aber kann man sich Freundlichkeit tatsächlich mithilfe von Übungen aneignen? Es geht dabei ja schließlich um mehr als reine Höflichkeit, um mehr als um Rücksichtnahme oder das Beherrschen der (Business)Etikette. Freundlichkeit drückt eine Haltung aus, eine grundsätzlich wohlwollende Einstellung dem oder der anderen gegenüber. „Zum Teil kann man das durchaus lernen“, sagt Melanie Klaes, Trainerin bei der Agentur für Freundlichkeit. Seit mehr als 20 Jahren coacht das Kölner Unternehmen vor allem berufliche Teams und Führungskräfte. Freundlicher Umgang sei „die Basis für eine gute Unternehmenskultur und überhaupt für ein gutes Miteinander“, meint Klaes. Und wenn der Chef im netten Tonfall Überstunden abverlangt, die man partout nicht machen kann oder will? Da müsse man freundlich zu sich selber sein, sagt die Trainerin, und das im Zweifelsfall ablehnen. „Freundlichkeit bedeutet ja schließlich nicht, seine Bedürfnisse nicht zu äußern.“ Die Frage hier sei das „Wie“ – das wiederum brauche Freundlichkeit.

Nette und freundliche Zeitgenossen gelten schnell mal als schwach oder gar naiv – als Menschen, die einfach nicht verstehen wollen oder können, wie die Welt funktioniert. Das ist eine ziemliche unfreundliche Einschätzung und verweist darauf, was viele als Maßstab ansehen: dass der Mensch angeblich doch des Menschen Wolf sei und stetes Misstrauen somit angebracht.

Dabei wird die Bedeutung und der Wert des Kooperativen für die Evolution in zahlreichen Studien in jüngster Zeit bestätigt und das Kooperative heute grundsätzlich als wichtiger angesehen als noch vor einigen Jahren.

Viele Menschen sehnen sich zudem nach Freundlichkeit, und manche verhalten sich auch bewusst entgegenkommend – als etwas Positives in einem als anstrengend und überfordernd empfundenen (Arbeits)Alltag, in einer Zeit, in der der Tonfall in den sozialen Medien oft beleidigend und feindselig ist. Ein freundlicher Umgang macht das Leben leichter. Er kann dafür sorgen, dass man entspannter durchs Leben geht, er mindert die Angst vor Abweisung und möglicherweise sogar vor einer sozialen Kälte. Schließlich steckt in dem Wort das Substantiv Freund. Und wie wichtig Freunde sind, erklärt nicht nur die Forschung regelmäßig, sondern weiß und empfindet wohl jeder und jede.

Freundlichkeit ist kein Allheilmittel gegen die Zumutungen des Lebens und schon gar nicht gegen soziale Härten, Ungerechtigkeiten und Angst vor Krieg. Doch sie kann diese möglicherweise etwas abmildern, und sie zieht Kreise: Wer Wohlwollen erlebt, wird selber meist ein bisschen liebenswürdiger. Freundlich sein kann – kein Grund, Abstand zu halten – ansteckend wirken.

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