„Unser Konsum hat viel von einer Sucht“

Brauchen wir das alles? Shoppen kann zur Sucht werden.

Brauchen wir das alles? Shoppen kann zur Sucht werden.

Herr Tillessen, wann haben Sie das letzte Mal geshoppt?

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Das war vor einem Monat, da habe ich mir zwei Polohemden gekauft.

Hat Sie das glücklich gemacht?

Ja. Ich weiß mittlerweile, was ich wirklich brauche und viel, lange und gern tragen werde. Bei den Hemden wusste ich sofort, dass das solche Teile sind.

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Abgesehen von Dingen des täglichen Bedarfs: Kaufen wir vor allem, um glücklich zu sein?

Durch Shoppen regulieren wir unsere Stimmung. Das zeigt sich besonders, wenn wir einen Laden ohne eine bestimmte Absicht betreten und dann etwas finden und kaufen, was wir eigentlich nicht brauchen. Das hat einen stimmungsaufhellenden Effekt. Bei solchen Lustkäufen wird Dopamin, das sogenannte Glückshormon, ausgeschüttet. Das macht uns zumindest vorübergehend fröhlich und zufrieden. Es gibt aber auch die Schattenseite: Damit der Dopaminspiegel auf hohem Level bleibt, kaufen viele Menschen immer mehr.

Das klingt fast nach einer Sucht. Ist das nicht etwas übertrieben?

Wir müssen uns eingestehen, dass unsere Art des Konsums viel von einer Sucht hat. Ich würde das niemals mit einer Heroinsucht vergleichen, aber es ist wie das Verlangen nach unserem täglichen Kaffee am Morgen. Da behaupten wir auch gern, dass wir jederzeit darauf verzichten könnten. Wir tun es aber nie, und wenn wir es mal müssen, sind wir meist richtig schlecht drauf.

„Unser Bedürfnis nach Teilhabe führt zu irrationalem Kaufverhalten“

Ist das Konsumieren also vor allem eine Frage der Hormone?

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Das ist ein Cocktail aus vielen Faktoren. Der Mensch orientiert sich nun mal an seiner Umwelt, deshalb konsumieren wir oft Dinge, die andere um uns herum konsumieren. Unser Bedürfnis nach Teilhabe ist sehr groß, und das führt zu irrationalem Kaufverhalten.

Einzukaufen ist durch die Digitalisierung auch extrem einfach geworden.

Dass wir heute beim Onlinehändler bestellen, was wir früher beim stationären Händler gekauft haben, ist nur die Spitze des Eisbergs. Unser Konsum hat sich weitaus tiefgreifender und weitreichender ins Netz verlagert. Das Netz hat sich von einer Such- zu einer Vorschlagsmaschine entwickelt, permanent macht es uns Vorschläge, was wir uns als nächstes kaufen könnten und sollten. Durch Social Media wurden zudem Plattformen geschaffen, auf denen wir unserer Umwelt jeden Konsum präsentieren können. Es ist reizvoll, wenn man morgens seinen hübsch aufgeschäumten Milchkaffee und den fein angerichteten Avocadotoast, mittags das neue Shirt und abends das Getränk in der stylishen Bar fotografiert und postet. Doch dadurch werden zusätzlich Anreize geschaffen, die unseren Konsum befeuern.

Ist die Klage über Social Media nicht eher das Lamento von jemandem, der nicht zu den Digital Natives gehört?

Nein, ich nutze Social Media selbst sehr viel, und es geht mir nicht darum, es insgesamt zu verteufeln. Gerade während des Corona-Lockdowns hat sich Social Media als hilfreich und beglückend erwiesen. Doch wir haben es mit Entwicklungen zu tun, die uns durch ihre hohe Geschwindigkeit überrollt haben. Bei aller erwünschten Wirkung von Social Media als sozialem Netzwerk gibt es katastrophale Nebenwirkungen. Die können und müssen wir in den Griff bekommen, weil sie außer Kontrolle geraten sind.

„Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein für die Problematik und dem Verhalten ist riesig“

Aber zeigt sich nicht gerade in dieser Corona-Zeit, dass viele Menschen bescheidener leben wollen? Dass sie keine Lust mehr haben auf überquellende Kleiderschränke und Wohnungen voller oft preiswerter Dinge, die sie eigentlich nicht brauchen?

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Ich bin da skeptisch. Erstens macht Konsum im Moment einfach nur nicht so viel Spaß, das Einkaufserlebnis im Geschäft ist überschattet von Hygienemaßnahmen. Zweitens ist man seines analogen Publikums weitgehend beraubt, kann die Freude über das Gekaufte schlechter mit anderen teilen, weil es weniger Partys oder Veranstaltungen gibt. Nach Corona werden wir uns aber in den gleichen Rahmenbedingungen wiederfinden wie vor der Pandemie, und man muss davon ausgehen, dass wir in alte Muster zurückfallen. Schon vor Corona gab es durchaus ein wachsendes Bewusstsein für die Schattenseiten unseres Konsums, das in den vergangenen Monaten sicherlich verstärkt wurde. Allerdings: 99 Prozent der Menschen sagen in Umfragen, dass sie nachhaltige Produkte kaufen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten. Doch tatsächlich liegt der Anteil derjenigen, die bewusst und ethisch konsumieren, im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Die Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein für die Problematik und dem Verhalten ist riesig. Das ist ein kollektives Problem, denn unsere gesamte Gesellschaft verhält sich nicht entsprechend unserer Werte wie Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Und es ist ein Problem für jeden Einzelnen von uns, dass wir nicht so handeln, wie wir sollten und theoretisch auch wollen. Da schließe ich mich selbst ein.

Carl Tillessen, Jahrgang 1967, hat Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre studiert. Mehrere Jahre verantwortete er in Berlin eine eigene Modemarke. Heute ist er vor allem als Trendanalyst und Berater – etwa für das Deutsche Mode Institut – tätig. Am 22. September erscheint Tillessens Buch: „Konsum. Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ (Verlag HarperCollins, 223 Seiten, 15 Euro).

Carl Tillessen, Jahrgang 1967, hat Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre studiert. Mehrere Jahre verantwortete er in Berlin eine eigene Modemarke. Heute ist er vor allem als Trendanalyst und Berater – etwa für das Deutsche Mode Institut – tätig. Am 22. September erscheint Tillessens Buch: „Konsum. Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ (Verlag HarperCollins, 223 Seiten, 15 Euro).

Auf politischer Ebene gibt es die Diskussion über das Lieferkettengesetz. Das soll deutsche Unternehmen dazu verpflichten, für die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards in Produktionsländern Verantwortung zu übernehmen. Was kann der Einzelne tun, um verantwortlich zu kaufen?

Ein erster Schritt, der noch nicht einmal mit großen Opfern verbunden ist, wäre, sich vor dem Kauf einer Sache die Frage zu stellen: Will ich das nur in diesem Moment kaufen – oder will ich das besitzen und wirklich benutzen? Dadurch würde sich unser Konsum schon gewaltig reduzieren. Der zweite Schritt wäre, die Konsequenzen aus den Informationen zu ziehen, die wir haben, aber gern verdrängen.

Was meinen Sie damit?

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Über nachhaltigen Konsum reden viele gern. Turnschuhe, die aus ausrangierten Fischernetzen hergestellt wurden, sind ein tolles Thema. Doch kaum jemand möchte über fairen und sozial verantwortlichen Konsum sprechen. Ein T-Shirt für 2,99 Euro? Eine Jeans für 9,99 Euro? Wir alle wissen, dass bestimmte Marken und bestimmte Produkte bei uns unfassbar billig sind, weil sie etwa in Bangladesch oder Kambodscha unter unerträglichen Bedingungen hergestellt sind. Das ist moderne Sklaverei. Diesem schwierigen und schmerzhaften Thema der sozialen Verantwortung unseres Konsums weichen wir alle gern aus.

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