Lebensmittelverschwendung: Sind Retterboxen die Lösung?
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Eine fleckige Oberfläche oder ein ungerader Wuchs: Obst und Gemüse, das nicht der Schönheitsnorm entspricht, wird häufig gar nicht erst geerntet.
© Quelle: Lisa Fotios / Pexels
Die Preise für Lebensmittel sind in den vergangenen Wochen und Monaten enorm gestiegen. Besonders Getreideprodukte, Obst und Gemüse werden immer teurer. Gleichzeitig landen weiterhin tonnenweise Lebensmittel hierzulande im Müll. Pro Jahr werden in Deutschland rund elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen, wie eine aktuelle Studie des Statistischen Bundesamts zeigt. Der Großteil der Lebensmittelabfälle entsteht mit 59 Prozent in privaten Haushalten. Jeder Verbraucher und jede Verbraucherin wirft demnach etwa 78 Kilogramm Lebensmittel im Jahr weg.
Das ist aus vielen Gründen problematisch: Die Anbauflächen und die Produktionskapazitäten sind weltweit begrenzt und auch Rohstoffe stehen nicht uneingeschränkt zur Verfügung, mahnt der Lebensmittelverband Deutschland. Landen Lebensmittel im Müll, werden nicht nur wertvolle Ressourcen, sondern auch Geld und Zeit verschwendet – und die eingebüßten Einnahmen werden durch steigende Preise mitunter an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben.
Verschiedene Modelle sollen dem Lebensmittelmüll entgegenwirken
Krummes Gemüse, Backwaren vom Vortag oder abgelaufene Brotaufstriche: Um solche Lebensmittel vor dem Müll zu bewahren, bieten immer mehr Anbieter sie zu einem günstigeren Preis an. Während Start-ups wie Sirplus Produkte versenden, die bereits das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben oder kurz davor stehen, gibt es bei anderen wie Etepetete nicht normschöne Frischwaren wie Obst und Gemüse im Abo.
Auch in großen Supermärkten stehen inzwischen häufig Tüten bereit, mit denen Gemüse und Obst zu einem geringeren Preis verkauft werden. Die Produkte darin liegen entweder schon ein paar Tage im Regal oder hatten bereits bei der Lieferung Mängel wie Druckstellen. Dazu kommen sogenannte Rettertüten von Bäckereien oder Restaurants, die mit übrig gebliebenen Backwaren, Smoothies oder fertigen Mahlzeiten gefüllt werden und von Kundinnen und Kunden per Apps wie „Too good to go“ vorbestellt werden können.
Retterboxen sind Wundertüten – aber preiswert
„Bei solchen Retterboxen bekommt man natürlich immer eine Wundertüte“, sagt Sonja Pannenbecker, Referentin für Lebensmittel und Ernährung bei der Verbraucherzentrale Bremen. Für Allergikerinnen und Allergiker oder auch Menschen, die viele Produkte nicht mögen, sind sie daher häufig ungeeignet. Für alle anderen, so die Expertin, lohne es sich jedoch, die Angebote einfach mal auszuprobieren.
Der Preisvorteil sei, je nach Inhalt, nämlich enorm, erklärt Elisa Kollenda von der Deutschen Umwelthilfe. Rettertüten kosten in der Regel zwischen 3 und 5 Euro, bei Obst- und Gemüsetüten erhalten Verbraucherinnen und Verbraucher für diesen Preis bis zu fünf Kilogramm. Auch die Überraschungstüten bei „Too good to go“ sind mit 3,90 Euro vergleichsweise günstig.
Gerade bei Angeboten, die verderbliche Lebensmittel wie Obst und Gemüse oder Backwaren enthalten, spielt jedoch die korrekte Lagerung eine große Rolle. Werden diese per Post verschickt, kann es passieren, dass die Qualität der Produkte durch unterbrochene Kühlketten oder die falsche Verpackung gemindert wird. Und auch die Herkunftskennzeichnungen oder der Vermerk von Allergenen kann bei zufällig zusammengestellten Tüten und Kisten nicht immer gewährleistet werden.
Ein Schritt in die richtige Richtung – aber keine Lösung
Die entscheidende Frage dürfte jedoch sein: „Rettet“ man mit den Tüten und Boxen wirklich Lebensmittel vor der Mülltonne? Inwieweit der Mehrverkauf in Form von Retterboxen und ‑tüten von Supermärkten oder Restaurants nicht im Vorfeld einkalkuliert wurde, sei unklar, sagt Pannenbecker. Es sei denkbar, dass es sich dabei um eine Marketingstrategie handle, die dafür sorgen soll, dass Kundinnen und Kunden auf den Geschmack kommen und in Zukunft auch zu regulären Geschäftszeiten und Preisen wiederkommen. „Wir wissen aktuell nicht, wie viel dafür mehr produziert wird“, sagt sie. Andererseits können Händlerinnen und Händler solche Aktionen gezielt einsetzen, um Lagerware abzubauen.
Retterboxen und ähnliche Angebote seien auch eine gute Möglichkeit, Aufmerksamkeit auf das Thema Lebensmittelverschwendung zu lenken. „Es ist ein großes, wichtiges Thema – sowohl für den Klima- und Umweltschutz als auch für die Sicherung der Welternährung“, sagt Pannenbecker. Langfristige Erfolge seien allerdings nur möglich, wenn Handel, Politik und Verbraucherinnen und Verbraucher in der Kette an einem Strang zögen, um die Vermeidung von Lebensmittelabfällen voranzutreiben. „Die Aktion ist ein Schritt in die richtige Richtung, packt das Problem allerdings noch nicht an der Wurzel“, sagt auch Erdmann.
Mindesthaltbarkeitsdatum ist kein Wegwerfdatum
Dazu gehört zum Beispiel, dass der Handel auch Produkte aus niedrigeren Warenklassen anbietet. „Wenn das Angebot breiter wird, bräuchte es Angebote wie Retterboxen, die extra noch per Post durchs ganze Land verschickt werden, nämlich gar nicht mehr“, so Pannenbecker. „Unser Wunsch wäre es, dass Obst und Gemüse in allen Formen und Größen auf dem Markt angeboten werden und so die Verbraucherinnen und Verbraucher auch wieder daran gewöhnt werden, dass Gemüse auch mal krumm sein kann“, betont sie.
Das gleiche Bewusstsein, so die Expertinnen, brauche es beim Mindesthaltbarkeitsdatum. Denn viele Produkte seien auch weit darüber hinaus noch gut. Das Mindesthaltbarkeitsdatum diene – im Unterschied zum Verbrauchsdatum – lediglich als Orientierungshilfe und sei kein Wegwerfdatum, so Erdmann.
Die richtige Planung hilft, weniger wegzuschmeißen
Damit Verbraucherinnen und Verbraucher selbst weniger Lebensmittel wegwerfen, empfehlen beide Expertinnen vor allem eines: die richtige Planung. „Manchen Menschen hilft es, zum Beispiel einen Wochenplan oder einen Einkaufszettel zu schreiben und sich beim Einkaufen daran zu halten, um Impulskäufe zu vermeiden“, so Pannenbecker.
Auch die Wahl der richtigen Verpackungsgröße könne helfen, Lebensmittelverschwendung zu verhindern. So können bei haltbaren Lebensmitteln wie Nudeln ruhig Großpakete gekauft werden, bei verderblichen Lebensmitteln wie Joghurt sollte man immer nur so viel kaufen, wie man auch in kurzer Zeit aufbrauchen könne.
Wer nicht weiß, wie viel er benötigt, kann zum Beispiel einen Portionsplaner zu Hilfe nehmen oder eine Zeit lang aufschreiben, welche Lebensmittel man besonders häufig wegschmeißt. „Ein Haushaltstagebuch ist eine der besten Maßnahmen, um sein eigenes Verhalten noch mal zu evaluieren“, betont Pannenbecker.