Kein Anruf unter dieser Nummer: Warum Menschen Scheu vor dem Telefonieren haben

Immer mehr Menschen tun sich mit dem Telefonieren schwer.

Immer mehr Menschen tun sich mit dem Telefonieren schwer.

Hannover. „Keine Scheu vor dem Fernsprecher!“ Diese nachdrückliche Ermunterung aus einer Broschüre mit Tipps dazu, „was sich gehört“, galt Schulabgängern Mitte der Sechzigerjahre. Ein ganzer Abschnitt beschäftigt sich damit, wie man sich am Telefon verhält („Deutlich den Namen sagen, nicht schreien“).

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Zu der Zeit sangen die Rolling Stones „Off the Hook“. In dem Song macht sich Mick Jagger Gedanken darüber, warum bei seiner Angebeteten ständig besetzt ist, wenn er anruft. Er kommt zu dem Schluss, dass ihr Telefonhörer wohl nicht richtig auf der Gabel liegt. Im Englischen benutzt man dafür den Ausdruck „off the hook“, was aber auch so viel wie „aus dem Schneider“ bedeutet. Er könnte also durchaus nicht besorgt oder verärgert, sondern erleichtert gewesen sein, dass er seine Traumfrau nicht erreicht hat.

Was soll man als verliebter Teenager auch spontan sagen, wenn der Schwarm abnimmt, ganz nah am Ohr, aber doch unsichtbar ist und – berechtigterweise – mit etwas Originellerem rechnet als einem verdrucksten „Na, wie geht‘s?“. Telefonieren war und ist eine intime Angelegenheit, weil es akustische Nähe schafft und damit eine gewisse Vertrautheit, selbst mit Fremden. Das macht die Sache zuweilen kompliziert. „Scheu“ davor ist immer noch ein Thema. Vor allem bei jungen Menschen. Sie telefonieren kaum noch.

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Dabei ist das Telefon eine der erstaunlichsten Erfindungen. Es war vor der Verbreitung des Internets sozusagen der Draht zur Welt – und ist bis heute ein Star in der Film- und Musikgeschichte. Etliche Drehbücher und Songs stellen das Telefon in den Mittelpunkt herzzerreißender, lustiger und spannender Geschichten. Das Patent auf den Apparat erwarb Alexander Graham Bell 1876. Er hatte seiner gehörlosen Mutter zuliebe nach Möglichkeiten geforscht, Laute elektrisch zu verstärken. Dabei entwickelte er seinen „sprechenden Telegraphen“. Der erste Satz, den er fernmündlich absetzte, war an seinen Assistenten im Nebenraum gerichtet: „Mister Watson, kommen Sie her, ich möchte Sie sehen.“ Auch wenn die Vorstellung, mit Menschen über weite Entfernungen sprechen zu können, vielen zunächst absurd erschien, verzeichneten die USA um 1880 bereits rund 60.000 Anschlüsse, in Deutschland waren es lediglich acht. Doch die Zahlen gingen auch hier bald steil nach oben. Bell selbst bewarb das Telefon damit, „dass es keinerlei besonderer Fähigkeiten bedarf, es zu benutzen“.

Im Handy- und Internetzeitalter ist Kommunikation ständig und überall möglich. Das bedeutet aber nicht, dass wir mehr miteinander sprechen als frühere Generationen. Die ersten beiden Pandemiejahre mit ihren Kontaktbeschränkungen haben zwar zu einem kleinen Anstieg von Telefonaten geführt, doch für Kommunikationswissenschaftlerin Veronika Karnowski von der Universität Erfurt bedeutet das keine Renaissance des Anrufens: „Ich denke nicht, dass künftig wieder mehr telefoniert wird.“ Stattdessen seien während der Pandemie auch im Privaten neue Formen der Kontaktaufnahme wie Videokonferenzen wichtiger geworden.

Insgesamt nutzte 2019 laut Meinungsforschungsinstitut YouGov nur jeder zehnte Deutsche sein Smartphone überwiegend für Telefonate. Und Festnetzanschlüsse sind rückläufig. Jeder vierte Bundesbürger telefoniert darüber gar nicht mehr, wie eine Umfrage im Auftrag des Vergleichsportals Ve­ri­vox im vergangenen Jahr ergab.

Mobiltelefone haben auch Telefonzellen verdrängt. Gab es 2006 noch 110.000 Kabinen bundesweit, sind es derzeit noch 14.200. Die Deutsche Telekom begründet den Abbau mit einer „starken Rückläufigkeit“ bei der Nachfrage nach „öffentlicher Telefonie“. Das klingt fast nach einer Ordnungswidrigkeit. Dabei grenzt es eher an Belästigung, wenn jemand in der U-Bahn in sein Handy brüllt. Glücklicherweise kommt das immer seltener vor. Denn statt sich gegenseitig anzurufen, tauscht man sich heute lieber über E-Mails und Messengerdienste aus. Letztere werden vor allem von Jugendlichen bevorzugt.

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94 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen in Deutschland besitzen zwar ein Smartphone, doch zum Telefonieren wird es eher selten genutzt. Nach einer Studie des IT-Branchenverbands Bitkom sind Telefonate nur bei gut einem Drittel der Befragten das Mittel der Wahl, um mit Freunden Kontakt zu halten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Jugendmedienstudie JIM.

Warum ist Telefonieren so unbeliebt? Wissenschaftlerin Kar­nows­ki begründet das mit bestimmten Normen, die vorherrschten: „Es wird als nicht besonders höflich angesehen, wenn man jemanden einfach so auf seinem Smartphone anruft. Man möchte nicht stören und sich nicht anmaßen, die Autonomie des Angerufenen dahingehend einzuschränken, selbst zu entscheiden, wann er mit wem in Kontakt tritt.“ Wer Nachrichten oder Mails schreibe, gebe dem anderen mehr Zeit, darauf zu antworten.

Und Zeit scheint ein großer Faktor im Zusammenhang mit Anrufen zu sein: Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ bezeichnete 2019 Telefonanrufe im Job als „eines der größten Ärgernisse für Millennials“. Es sei reine Zeitverschwendung. Und das nicht nur, weil es mit E-Mails einen effizienteren Weg gebe, um Informationen weiterzugeben, sondern auch, weil Smalltalk, den ein Telefongespräch unweigerlich mit sich bringe, „ein großer Zeitfresser“ sei.

Gerade im englischsprachigen Raum wird viel Wert auf ebendiesen Smalltalk mit allerhand Höflichkeitsfloskeln gelegt. In Deutschland kommt man zwar schneller auf den Punkt, doch wer unangenehme Pausen in der Leitung vermeiden will, dem verlangt ein Telefonat, insbesondere mit wenig vertrauten Menschen, schon ein gewisses Maß an Kommunikationstalent und Schlagfertigkeit ab. Das löst nicht selten Angst davor aus, etwas Falsches zu sagen oder peinlich zu wirken. Manchen ist es auch nicht geheuer, derart im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, die Reaktion des anderen auf Äußerungen aber nicht sehen zu können.

Im Netz kursieren jedenfalls viele Fragen und Erfahrungsberichte rund um das Schlagwort „Telefonphobie“. Klinische Studien dazu gibt es bislang nicht. Im medizinischen Sinne ist eine Telefonphobie daher auch keine eigene Erkrankung. Dennoch kann das Anrufen oder Angerufenwerden Schweißausbrüche oder Herzrasen bereiten. Davon zeugen zumindest Schilderungen von Betroffenen im Netz. Ärzte und Psychologen ordnen die Furcht vor Telefonaten als Sozialphobie ein. Durch bewusste Übung, da sind sich viele Experten einig, lässt sich in den meisten Fällen Abhilfe schaffen. Doch muss man überhaupt noch telefonieren? Um Krankenwagen, Feuerwehr oder Polizei zu rufen, ist es unerlässlich. Behörden, Praxen, Banken, Versicherungen und andere Firmen dagegen lassen sich in der Regel auch über E-Mail und Chats kontaktieren.

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Gerade während der Kontaktbeschränkungen in der Corona-Krise verzeichneten Unternehmen Branchenexperten zufolge einen hohen Beratungsbedarf – auch über Telefonhotlines. Oft steckt man dort als Kunde in zermürbenden Warteschleifen fest. Doch das Telefonieren in Unternehmen habe nach wie vor einen sehr hohen Stellenwert, sagt die Berliner Kommunikationstrainerin Antje Zierle-Kohlmorgen, die Seminare rund ums Telefonieren gibt. Kunden legten Wert auf persönlichen Kontakt. Gehe es um Beschwerden, Nachfragen oder Pro­ble­me, schätzten viele den direkten Draht. Und auch bürointern helfe ein Telefonat, Unklarheiten schneller auszuräumen. „Menschen wollen mit Menschen sprechen“, ist Zierle-Kohlmorgen überzeugt.

In ihren Kursen hat sie es oft mit 19- bis 25-jährigen Berufsanfängern zu tun, die meist gar nicht privat telefonieren würden. „Tatsächlich fehlt ihnen oftmals die Übung darin, wie man Gespräche am Telefon führt“, sagt sie. Doch die Sinnhaftigkeit im Job werde nicht infrage gestellt. Die Vorteile lägen schließlich auf der Hand: „Missverständnisse lassen sich besser vermeiden, Pro­ble­me effektiver beheben. Bei ­E-Mails lesen wir den Ton nicht mit – da kann schon mal jemand was in den falschen Hals bekommen.“ So lernt man denn bei einem Telefontraining auch viel über Stimmwirkung: „Ein Lächeln“, sagt Zierle-Kohlmorgen, „kann man hören.“ Da hält man doch gern die Verbindung – ganz ohne Scheu.

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