Teatime, Tweed und Tower Bridge: Warum der britische Lifestyle boomt
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Dezent und klassisch: British Lifestyle erkennt man sofort – und sieht ihn vor allem im Herbst immer wieder.
© Quelle: clemonojeghuo/Unasplash
Der Nachmittag beginnt für Sven Groh mit einer guten Tasse Tee. Der 22-jährige Student aus München liebt die britische Tradition des Five o’clock Teas – und nicht nur die. Groh trägt Tweedsakko und Barbourjacke, und er freut sich alljährlich im September auf die “Last Night of the Proms”, die letzte Nacht der BBC-Promenadenkonzerte. Pferderennen? Mag Groh. Country Life? Britische Autos? Agatha Christies “Miss Marple”-Romane? Alles fester Bestandteil seines Lebens. “Ich brauche keine englische Bettwäsche oder Bilder der Königsfamilie”, sagt Groh. “Es ist eher so, dass man britisch denkt.”
Groh lebt so etwas wie ein anglophiles Leben – und ist damit in sozialen Medien wie Instagram in bester Gesellschaft. Dort sieht man seine neuen Bibliotheksstühle, einen Rolls Royce oder Scones samt Clotted Cream und Marmelade, den klassischen englischen Cream Tea – englische Lebensart im quadratischen Foto. Hashtags wie #britishstyle werden auf Instagram inzwischen zu Hunderttausenden genutzt, oft von jungen Menschen, die ihre neue Liebe zur alten britischen Lebensweise im Bild festhalten.
Eine Welle des Anglophilen
Es mag am Brexit liegen und an der Aussicht, künftig auf manches britische in Europa verzichten zu müssen, zumindest zieht sich seit einiger Zeit eine Welle des Anglophilen durch den Alltag vieler Menschen diesseits des Ärmelkanals – auf ganz unterschiedlichen Ebenen.
Porridge, die urbritische Frühstücksmahlzeit, hat Einzug gehalten auch in die kleinsten deutschen Supermärkte. Bei Gin kann man schon gar nicht mehr von Hype reden – er ist fester Bestandteil einer jeden Bar geworden. In Großbritannien gehört er seit mehr als hundert Jahren zu jedem Stehempfang. Und auch für einen Afternoon Tea, der nur am Rande mit Tee, vor allem aber mit Scones und Gurkensandwiches zu tun hat, muss man längst nicht mehr in ein englisches Fünfsternehotel reisen. Es genügt ein Ausflug nach Hamburg, München oder Berlin. Die feine britische Zwischenmahlzeit ist in den besseren Hotels Festlandeuropas eine feste Einrichtung geworden.
Der British Lifestyle ist trendy.
Stefan Heinrich / greatbritishfood.de
“Der British Lifestyle ist trendy”, sagt auch Stefan Heinrich von greatbritishfood.de, einem Spezialversand für englische Lebensmittel. “Das erkennen wir unter anderem daran, dass unsere Umsatzkurven in den letzten Jahren gerade mit Porridge und Tee, dazu auch Clotted Cream und eine Backmischung für Scones, nur eine Richtung kennen: nach oben.”
Einfluss durch Brexit und Corona?
Eine Entwicklung, die durch den Brexit beeinflusst wird? Oder gar durch die Corona-Pandemie? “Corona trägt mit Sicherheit dazu bei, dass man statt einer Städtereise heute eher die Lieben zu Hause mit einem Full English Breakfast verwöhnt als im engen Billigflieger ein schlechtes Hotel in London anzusteuern”, vermutet Heinrich.
Doch nicht nur auf dem Esstisch wird es in diesem Herbst britisch. Gerade erst vermeldete der zu BMW gehörende Autohersteller Mini aus Oxford zweistellige Absatzsteigerungen – allein im Juli um 35,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Viele wollen sich ein Stück England in die Garage stellen.
Dazu passt das richtige Outfit: In der Mode rückt – wie so oft im Herbst – der britische Landhausstil in den Fokus. Neben der Wachsjacke ist in diesem Jahr der Trenchcoat angesagt wie lange nicht. “Kleidung ist einer der wichtigsten Punkte, mit denen man ausdrücken kann, sich der britischen Kultur zugehörig zu fühlen”, sagt Student Groh.
Die anhaltende Beliebtheit der britischen Mode liegt in unserer Geschichte und der hervorragenden Handwerkskunst.
Dario Carenera / Chefschneider des Londoner Modeunternehmens Huntsman
“Die anhaltende Beliebtheit der britischen Mode liegt in unserer Geschichte und der hervorragenden Handwerkskunst”, meint denn auch Dario Carenera, Chefschneider des Londoner Modeunternehmens Huntsman. Allerdings werde der Stil inzwischen immer mehr variiert: “Ich sehe, dass Menschen jetzt sehr viel ihren eigenen Stil und ihre eigene Identität entwickeln, anstatt Trends von Marken zu folgen”, hat Carnera beobachtet. “Wir verwenden Einflüsse aus unterschiedlichen Stilen und Epochen, um unsere Individualität zu ergänzen.”
Britische Tradition und zeitgemäße Ästhetik
Dazu passt die neue Herbst-Winter-Kollektion von Barbour: Die britische Stilikone Alexa Chung verbindet darin britische Tradition mit zeitgemäßer Ästhetik. Gewollt ist eine Mode, die sowohl auf dem Land als auch in der Großstadt funktioniert. Zentrales Thema sind wetterfeste Jacken von Marineblau bis Rostrot.
Für den Rundumlook hat der Modeversandhandel Mr. Porter gemeinsam mit Regisseur Matthew Vaugh die “Kingsman”-Herrenkollektion vorgestellt, die sich an den Kostümen des nächsten Teils der Kinoreihe “Kingsman” orientiert, dessen Start coronabedingt auf das nächste Jahr geschoben wurde. Neben dem Wollsakko und braunen Landhauslederschuhen besteht die Kollektion aus passender Brille, Hemden und Hosenträgern, vieles im Stil vergangener Jahrzehnte.
Doch es liegt auch eine leise Ironie im europäischen Trend zu britischen Traditionen: Denn in Großbritannien selbst bemüht man sich seit Jahren um ein flotteres, jüngeres, jetzigeres Image. “Cool Britannia”, die Philosophie vom poppigen, weltgewandten Land, die einst der Premierminister Tony Blair prägte, ist bis heute der wichtigste Styleguide.
Auch Spezialitätenhändler Heinrich findet, dass British Lifestyle in Deutschland völlig verklärt wird: “Mancher wäre gern ein Lord mit großem Landbesitz und stellt sich das Landleben in Großbritannien sehr romantisch vor”, sagt er. “Die Wirklichkeit ist aber meist deutlich trivialer.”