Wie Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die DDR-Diktatur aufarbeiten will
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Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beschäftigt sich in seinen Büchern mit der Wendezeit.
© Quelle: Ekko von Schwichow/schwichow.de
Als die DDR unterging, war Ilko-Sascha Kowalczuk 22 Jahre alt, trug Lederjacke, Palästinensertuch und die Haare lang. Als das Revolutionsjahr 1989 zu Ende ging und das Einheitsjahr 1990 begann, wählte er seine Wege durch die Stadt immer stärker danach, ob irgendwo Neonazi-Schläger lauern könnten.
Ganz neu war diese Art Vorsicht für ihn nicht: „Mit Hooligans und Neonazis hatte ich schon seit Mitte der 1980er-Jahre in der DDR Erfahrungen gemacht“, sagt er. Dazu gehörten auch ganz unmittelbar schmerzhafte: „Ich habe auch mal von denen auf die Fresse bekommen“, erzählt Kowalczuk.
Der Mauerfall zum richtigen Zeitpunkt
Er ist einer der wichtigsten Historiker zur DDR- und Nachwendegeschichte, sitzt in der Regierungskommission zu „30 Jahren Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, ist Autor einer aktuellen, streitbaren Wendebilanz – und zugleich der berlinernde Zeitzeuge vom Prenzlauer Berg. Wir treffen uns in einem Café Nähe Helmholtzplatz. Kowalczuk ist in seinem Kiez geblieben, während sich um ihn herum alles veränderte.
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Drei von 20 Mietparteien in seinem Haus seien noch Ostdeutsche, die anderen Neueigentümer und Neumieter aus dem Westen, sagt er. Damit ist die Frage, wer das Kapital besitzt im vereinten Deutschland, anhand eines Hauses in begehrtester Berliner Wohnlage bereits geklärt.
Die größte Gefahr des Zeithistorikers ist es, im Spalt zwischen eigenen Anekdoten und Analyse zu versinken. Kowalczuk aber springt meisterhaft hin und her und schafft es, die Welten zu verbinden.
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Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beschäftigt sich in seinen Büchern mit der Wendezeit.
© Quelle: dpa
Nach dem Revolutionsherbst kam das Jahr, in dem alles aufbrach, in dem alle Tabus brachen. Im Schlechten wie im Guten – und vor allem im Unerwarteten. Kowalczuk nennt es „das spannendste und aufregendste Jahr in meinem ganzen Leben“. Für seine Generation kam der Mauerfall genau zum richtigen Zeitpunkt. „Wir waren so jung, dass wir durchstarten konnten“, sagt er. „Wir konnten endlich anfangen zu leben. Wir waren die absoluten Sieger.“
Kowalczuk selbst durfte endlich studieren. Im kindlichen Alter von zwölf hatte sich der Ost-Berliner für eine Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee verpflichtet, mit 14 widerrief er diese Entscheidung. Es dauerte weitere anderthalb Jahre, bis der Staat dieses Nein akzeptierte.
„Man hat mich immer wieder vor Tribunale gezerrt, hat mir immer wieder bedeutet, dass meine Zukunft beendet sei. Ohne meine Freunde hätte ich das nie ausgehalten“, erzählt der Historiker. Seinen Vater, einen strammen Kommunisten, hat er mit diesem Widerruf schwer enttäuscht. Seine Freunde aber, aus katholischen und evangelischen Kirchenjugendgruppen, standen zu ihm.
Die meisten Menschen in der DDR haben in den großen Erzählungen nie einen Platz gehabt.
Ilko-Sascha Kowalczuk
Der Kampf seiner Jugend prägt Kowalczuk bis heute, und er hat auch sein Bild von den Trümmern der DDR-Gesellschaft geprägt. „Ich hatte wahnsinnig viel negative Energie dadurch“, sagt er, „ich habe gehasst, und ich habe nach 1990 lange gebraucht, meinen moralischen Überschuss wieder abzulegen. Ich wusste nicht, dass das aus meiner verletzten Kinderseele stammte.“
Er will die Diktatur aufarbeiten – erst als Geschichtsstudent, dann als Mitglied der Bundestags-Enquetekommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur“, später als Wissenschaftler und Forscher in der Stasi-Unterlagen-Behörde. „Wenn vom Osten etwas bleibt, dann ist es die Stasi“, sagt er heute – und es schwingt auch Selbstkritik mit in diesem Satz.
Denn die weltweite Fixierung auf die Geheimpolizei in der Diktatur erschwere die Sicht auf den Alltag in der DDR. Wer von der Stasi redet, sieht Opfer und Täter. „Die große Gruppe dazwischen findet nicht statt, weil sich eine Gesellschaft nicht in so einfache Dichotomien hineinpressen lässt. Die meisten Menschen in der DDR haben in den großen Erzählungen nie einen Platz gehabt.“
Klischees trennen Ost und West
Wer aber schreibt diese Erzählungen? Für Kowalczuk ist klar: Es gibt ein Machtgefälle. Der Westen, die Westdeutschen müssen sich nicht erklären, sie sind der Normalfall. „Nur der Ostler, das unbekannte Wesen, muss sich erklären, damit wir uns endlich verstehen, dann wird alles gut.“ So sarkastisch kommentiert er die seit 30 Jahren erhobene Forderung, Ost und West müssten sich ihre Geschichten erzählen.
Doch auch den Blick der Ostdeutschen gen Westen kritisiert er: „Im Osten hat sich festgesetzt: Wir sind die mit den gebrochenen Biografien, wir hatten es schwer. Die im Westen hatten es alle leicht, die sollten mal ruhig sein.“ In ihren Klischees voneinander bleiben Ost und West getrennt.
„Die Übernahme“ (C. H. Beck, 319 Seiten, 16,95 Euro) heißt Kowalczuks aktuelles Buch. Der Titel ist eine Provokation, das Beiwort „feindlich“ klingt bewusst-unbewusst mit. Es ist dennoch nicht falsch, den Beitritt als „Übernahme“ zu bezeichnen, schließlich ging es um die übergangslose Einführung von Behörden, Strukturen und einer komplett unbekannten Gesellschaftsordnung.
Die Ostdeutschen würden heute, mit all den Erfahrungen, wieder für dieselbe Einheit wie bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 stimmen.
Ilko-Sascha Kowalczuk
Als Erstes aber kam natürlich die D-Mark, und dazu gehört eine weitere Kowalczuk-Anekdote, in der es handfest zur Sache geht. „Am Tag der Währungsunion bin ich mit dem Fahrrad an einer Menschenschlange vorbeigefahren, die auf die D-Mark wartete. Ich wurde vom Rad gezogen und getreten, weil die Leute in mir jemanden sahen, der gegen die Einheit war. Dabei stimmte das gar nicht.“
Am 3. Oktober 1990 pendelte Kowalczuk in Ostberlin zwischen Einheitspartys und Antieinheitspartys. „Ich habe mich wahnsinnig gefreut und dachte gleichzeitig, das geht alles zu schnell, das können wir nicht verkraften.“ Damit sollte er recht behalten – und dennoch: „Die Ostdeutschen haben so gewählt. Und sie würden heute, mit all den Erfahrungen, wieder für dieselbe Einheit wie bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 stimmen.“
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Ende gut, alles gut? Natürlich nicht. Der Vollzug der Vereinigung war von Missverständnissen und Zumutungen geprägt, die bis heute nachwirken. „Wir wissen nicht, was die Ostdeutschen wirklich wollten – aber diesen Weg wollten sie nicht."
Die ersten Erfahrungen von Millionen Menschen mit diesem System waren unerfreulich, es waren Erfahrungen mit Arbeits- und Sozialämtern, es waren Rückübertragungsforderungen. Darauf ließ sich keine Identität mit dem neuen System gründen.
30 Jahre Mauerfall: „Das ist unser Traum von Deutschland“
In diesem Jahr jähren sich die friedliche Revolution in der DDR und der Mauerfall zum 30. Mal. Am 9. November 1989 wurde Berlin wieder eins.
© Quelle: RND
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Vor 30 Jahren fiel die Mauer. Das Jahr 1989 gehört zu den bewegendsten in der deutschen Geschichte. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat mit Zeitzeugen gesprochen, prominenten und nicht prominenten. Was sie zu erzählen haben, lesen Sie in der Serie „Mein Traum von Deutschland“. Jeden Tag erscheint eine neue Geschichte. Die Serie läuft bis zum Tag des Mauerfalls am 9. November.