Verblüffend aktuell: Steven Spielberg bringt die „West Side Story“ ins Kino
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Tragisch Liebende: Ansel Elgort (links) als Tony and Rachel Zegler als Maria in einer Szene des Films „West Side Story".
© Quelle: Niko Tavernise/Walt Disney Studi
Als die Schlacht zwischen den verfeindeten Gangs vorüber ist und zwei erstochene Jugendliche auf dem Boden liegen, sitzt Valentina in ihrem New Yorker Laden. Traurig singt die alte Frau von Frieden, von Vergebung und Hoffnung. Sie singt von einem Platz im Leben, den es irgendwo geben müsse. Sie singt in Steven Spielbergs Neuverfilmung des Musicals „West Side Story“ Leonard Bernsteins Lied „Somewhere“.
Für einen Moment wandert die Kamera die Zimmerwand hinauf. Auf einem Foto sehen wir den lächelnden Doc. In der legendären Musicalverfilmung von 1961, überhäuft mit zehn Oscars, war Doc (gespielt von Ned Glass) derjenige, der so einen Laden hatte. Auch er wünschte sich vergeblich, dass der Hass zwischen den Banden der Jets und der Sharks endlich begraben werden möge.
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Valentina, so heißt es nun bei Spielberg, sei seine Witwe, eine mit Bedacht hinzuerfundene Rolle. Denn verkörpert wird Valentina von Rita Moreno, die 1961 schon als Anita dabei war (und als erste Latina einen Oscar gewann): Morenos Besetzung ist eine tiefe Verneigung Spielbergs vor der Verfilmung von Robert Wise und Jerome Robbins. Ein halbes Jahrhundert später bringt Hollywoods Starregisseur noch einmal das Musical auf die Leinwand, in dem Jazz, Oper und lateinamerikanische Klänge fließend ineinander übergehen.
Geschichte einer tödlichen Liebe
Spielberg lässt sich mit dem Satz zitieren, dass dieser Film „wahrscheinlich die größte Herausforderung“ seiner Karriere gewesen sei. Zwar ist „West Side Story“ sein erster Ausflug ins Musikkino, dennoch erstaunt die Aussage bei jemandem, der für Werke wie „Der weiße Hai“, „Schindlers Liste“, „Der Soldat James Ryan“, „E. T.“ oder die „Indiana Jones“-Reihe verantwortlich zeichnet. Die Demut deutet darauf hin, dass Spielberg mehr als nur eine sentimentale Erinnerungsshow im Sinn hat.
Für ihn spiegelt sich in der Geschichte von der tödlichen Liebe zwischen Tony (Ansel Elgort) und Maria (Rachel Zegler) unsere Gegenwart wider – auch wenn er konsequent darauf verzichtet hat, die Story in unser Jahrtausend zu hieven. Klobige Polizeioldtimer kurven hier durch die Straßen New Yorks, die Frauen tragen knallbunte Kleider, die auf jeder Fünfzigerjahre-Revivalparty echte Hingucker wären.
Rassismus, Vorurteile, der Kampf um einen Platz in der Gesellschaft: Alles steckt drin in der „West Side Story“. Anders als in der Verfilmung von 1961 hat Spielberg genau darauf geachtet, dass die Sharks-Gang der puerto-ricanischen Einwanderer von Schauspielerinnen und Schauspielern mit lateinamerikanischen Wurzeln besetzt wurde.
Von Tausenden Migranten, unterwegs in die USA, wird hier gemunkelt – und damit unwillkürlich das Bild von Menschen heraufbeschworen, die heute an der mexikanisch-amerikanischen Grenze auf Durchlass ins gelobte Land hoffen. Und rassistische Polizisten? Sind einem bestens vertraut.
Aber auch die Jets haben das Nachsehen in einem sozialen Verdrängungswettbewerb: „Slum Clearance“ steht auf einem Schild in dem von ihnen beanspruchten Straßenrevier. Der Kiez soll weichen. Die Stadt New York will ein Edelviertel entstehen lassen.
Die Frauen sind klüger als die Männer
Drehbuchautor Tony Kushner (schon bei Spielbergs „München“ und „Lincoln“ dabei) hat recherchiert: In der Upper West Side mussten bald nach dem Zweiten Weltkrieg weniger betuchte Nachfahren der aus Europa Eingewanderten das Feld räumen. Die USA als Schmelztiegel? Davon ist dieses Musicalvölkchen weit entfernt. Dazu die witzig-klugen Texte des vor Kurzem gestorbenen Songschreibers Stephen Sondheim: „Everything free in America / for a small Fee in America.“ Alles umsonst in Amerika? Nun ja, gegen eine kleine Gebühr schon.
Und noch einen weiteren Konflikt betont Spielberg: den zwischen Männern und Frauen. Frühreife Bengel fuchteln mit Messern und Pistolen herum. Jede Tanzeinlage kann sich in testosterongeschwängerten Kampf verwandeln (Choreografie: Justin Peck vom New York City Ballet), begleitet von einer ungemein beweglichen Kamera.
Die Frauen dagegen setzen auf Integration. „Speak English!“, beschwört Anita (Ariana DeBose) ihren Gangchef-Freund Bernardo (David Álvarez). Ungewöhnlich für eine US-Produktion werden die spanischsprachigen Einsprengsel nicht mit Untertiteln versehen.
Mit einem süßlichen Musical hat Spielbergs Version wenig gemein. Gedreht hat er viel in den Gassen New Yorks. Bei ihm wird die Stadt zur Bühne, nicht die Bühne zur Stadtkulisse ausstaffiert.
In der berühmten Feuerleiter-Liebesszene – nachempfunden der noch berühmteren Balkonszene in „Romeo und Julia“ – leidet man mit Tony und Maria. Sie singen sich das Herz aus der Brust. Doch ihre Liebe wird Opfer des Hasses und der Wut.
So ist Spielberg eine Gratwanderung geglückt: Er bleibt nahe dran am Broadway-Stück – und verweist indirekt doch auf die zeitlose Aktualität der Geschichte.
„West Side Story“, Regie: Steven Spielberg, mit: Ansel Elgort, Rachel Zegler, Ariana DeBose, Rita Moreno, 156 Minuten