„Tolkien“ – so lebte und liebte der Autor von „Der Herr der Ringe“
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Krieg und Liebe: J. R. R. Tolkien (Nicholas Hoult) und Edith (Lily Collins). An der Somme überlebt der Autor das Grauen der Schützengräben.
© Quelle: Foto: Fox
Hannover. „Als Herr Bilbo Beutlin von Beutelsend ankündigte, dass er demnächst zur Feier seines einundelfzigsten Geburtstages ein besonders prächtiges Fest geben wolle, war des Geredes und der Aufregung in Hobbingen kein Ende.“ So beginnt die Geschichte vom „Herrn der Ringe“, die viele Freunde des Fantastischen für das Buch der Bücher halten.
„Schon seit meiner Kindheit war ich fasziniert von Sprachen“, gesteht der spätere „Ring“-Autor und Oxford-Philologe John Ronald Reuel Tolkien (Nicholas Hoult) in diesem Film seiner Liebsten Edith (Lily Collins): „Ich habe meine eigene erfunden.“ Die zarte Kaffeehausszene ist eine der schönsten dieses Autorenporträts.
Tolkien – der grandiose Eskapismus funktioniert bis heute
Quenya, Tolkiens hochelbische Sprache, hat tatsächlich nicht nur ein paar Schriftzeichen, Worte und Redensarten, sondern eine komplette Phonologie und Grammatik. Seine Geschichte von den vier Hobbits, die loszogen, um einen magischen Ring in den Schicksalsberg zu werfen und die Macht des bösen Herrschers Sauron zu brechen, lebt ebenfalls von der Liebe zum Detail (plus einem gewaltigen mythologischen Überbau).
Der Roman wurde nach seinem Erscheinen 1954 zunächst Kultbuch, dann Millionenseller, die Hobbits Frodo Beutlin und Samweis Gamdschie, Zauberer Gandalf, Zwerg Gimli und der froschartige Gierschlund Gollum wurden zu Popkultur. Das Phänomen verstärkte sich noch Anfang des neuen Jahrtausends durch die Verfilmungen von Peter Jackson: Tolkiens Trilogie war ein Roman zur Flucht aus einer verwirrenden Gegenwart in eine geordnete märchenhafte Vergangenheit, wo Gut und Böse klar voneinander getrennt war. Der Eskapismus geht bis heute weiter – eine „Herr der Ringe“-Fernsehserie ist derzeit im Werden.
Tolkien – Regisseur Karukoski macht den Autor jung und lebendig
Wer der Autor war, versucht nun der finnische Regisseur Dome Karukoski („Helden des Polarkreises“) zu klären. Man weiß ja nicht allzuviel über den Schöpfer Mittelerdes, des Auenlands und des Fangornwaldes. Man kennt Bilder von einem älteren Herrn mit Pfeife, der wirkt wie ein alt gewordener Sherlock Holmes bei der Recherche in einer verqualmten Bibliothek. Sieht man diese Fotos, hat man das Gefühl von Staub, der im Hals kratzt.
Karukoski zeigt jetzt, dass dieser Mann jung und lebendig war. Als Waisenkind schließt Tolkien an der King Edward’s School von Birmingham ein Bündnis mit drei an Kunst, Dichtung, Musik und Literatur interessierten Außenseitern, seinen „Gefährten“. Wenn sie übers Kopfsteinpflaster stromern oder durch altehrwürdige Arkaden huschen, sollen sie aussehen wie die Hobbits Frodo, Samweis, Merry und Pippin.
Tolkien verliebt sich in seine Pensionsprinzessin Edith (Lily Collins), wird jedoch gezwungen, sich zu entscheiden: frühe Heirat und privates Glück oder Studium in Oxford. Das alles sind Rückblenden, Erinnerungen des fiebernden Soldaten Tolkien, der sich in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs um seine Schulkameraden sorgt und seiner vielleicht verlorenen Liebe hinterhertrauert. An der Somme starben schätzungsweise eine Million Menschen.
Tolkien – Nicholas Hoult empfahl sich mit seiner Salinger-Rolle
Nicholas Hoult („Warm Bodies“, „Mad Max: Fury Road“) spielt den Tolkien lebensfroh und schrullig zugleich. Empfohlen hat er sich für diese Rolle mit Danny Strongs Dichterdrama „Rebel in the Rye“(2017), wo er als amerikanischer Schriftsteller Jerome D. Salinger mit seinem herausfordernden Lehrer und Mentor Burnett (Kevin Spacey) kluge Dispute darüber führte, was einen Schriftsteller ausmacht – Schreibenmüssen unbedingt, auch wenn möglicherweise zu Lebzeiten nie etwas veröffentlicht wird.
Diese Gespräche zählten zum Anregendsten, was man im Kino über den Entstehungsprozess von Literatur gehört hat. Auch Tolkien war einer, der schreiben musste und dabei nicht an Ruhm und Geld dachte.
Doch hat sein filmisches Porträt nichts Vergleichbares vorzuweisen. Dieser Lebensweg ist über knapp zwei Stunden lang warmherzig erzählt, man schließt Tolkien und seine liebenswerte Edith ins Herz und erschließt sich den Dichter über die Schockerfahrung des Krieges.
Tolkien – sein Bursche an der Somme heißt tatsächlich Sam
Als plötzlich ein Drache an der Front Feuer speit, ist die Kernaussage von Karukoski und seinen Drehbuchautoren David Gleeson („Cowboys & Angels“) und Stephen Beresford („Pride“) klar: Der Erste Weltkrieg ist der Vater von Sauron, Saruman und den Ringgeistern mit ihren Reitdrachen gewesen, von der gewaltigen Schlacht um Helms Klamm und all dem wundersamen und gewalttätigem Gewese.
Und Tolkiens Bursche an der Somme heißt tatsächlich Sam. Echt jetzt? Hatte er etwa auch haarige Füße?
„Das Buch handelt von nichts als von sich selbst“, hatte der echte Tolkien Ende der Sechzigerjahre dagegen in einem Interview bekannt.„Es hat keine allegorischen Absichten, seien sie thematisch, moralisch, religiös oder politisch. „Es erzählt nicht von modernen Kriegen.“
Tolkien – das Autorenporträt ist Fantasy im entfernteren Sinne
Regisseur und Drehbuchschreiber behaupten, es besser gewusst zu haben. Sie haben sich mit ihren eigenen Vermutungen über den Autor hinweggesetzt und sie in den Rang von filmischen Wahrheiten erhoben. Tolkiens Unterbewusstsein muss die erlebten Gräuel in mittelalterlich anmutende Schlachten umgewandelt haben. Es kann nicht anders gewesen sein.
Und deshalb gehört auch „Tolkien“ zu den Geschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen, ohne wahr zu sein. Fantasy – jedenfalls im entfernteren Sinne. Man sollte diesem Film ein „Es war einmal“ voranstellen.
„Tolkien“,Regisseur: Dome Karukoski, Darsteller: Nicholas Hoult, Lily AllenFilmlänge: 112 Minuten, Altersfreigabe; ab 12 Jahren
Von Matthias Halbig/RND