Spitzentitel – so wird ein Buch zur Nummer 1 in seinem Verlag
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Der Autor Matthias Politycki (links) und Tim Jung, verlegerischer Geschäftsführer bei Hoffmann und Campe.
© Quelle: Daniel Killy
Wie fühlt sich das an, den ersten Spitzentitel in der Hand zu halten?
Tim Jung: Ich empfinde es als sehr beglückend, in diesem Frühjahr bei Hoffmann und Campe Matthias Politycki mit einem so rasanten Buch verlegen zu dürfen. In “Das kann uns keiner nehmen” wird gereist, geliebt, gefeiert und gestorben, was das Zeug hält. Darüber hinaus gibt es eine hochinteressante gesellschaftliche Komponente: Es ist auch ein Deutschlandroman, der in Afrika spielt.
Matthias Politycki: Für mich persönlich war, salopp formuliert, auch schon jedes frühere Buch ein Spitzentitel, weil ich während des Schreibens vollkommen davon erfüllt war, überzeugt war, besessen davon war. Dieses Hochgefühl jetzt aber auch mit allen bei Hoffmann und Campe zu teilen – und übrigens schon bevor der Text überhaupt erst mal zu Ende korrigiert war –, das ist sehr neu für mich, und natürlich genieße ich es. Es hat mein Leben ganz schön verändert, vor allem beschleunigt, hat mir die letzten Energiereserven abgefordert. Und mich gleichzeitig beflügelt.
Aber da verbirgt sich ja auch ein neuer Druck dahinter – ein Spitzentitel sollte ja schon flutschen …
MP: Ich schreibe nicht aus Kalkül oder weil ich Verlagsverträge erfüllen muss, sondern weil es mir auf den Nägeln brennt oder, sagen wir’s ruhig mal kitschig, im Herzen. Insofern unterscheidet sich “Das kann uns keiner nehmen” erst mal nicht von meinen bisherigen Büchern. Aber klar, die Verantwortung ist bei diesem Buch größer geworden, sie reicht übers Erstellen eines Textes weit hinaus. Das war schon im Vorfeld zu spüren: Meine Homepage musste umgebaut werden, meine Facebookseite bekam professionellen Beistand, ein Video zum Buch wurde gedreht. … Ganz abgesehen von den klassischen Presse-Essen oder Interviews. Doch auch alle im Verlag haben sich mit unglaublicher Intensität auf das gestürzt, was in kürzester Zeit zu tun war, nachdem die Entscheidung gefallen war. Und nun? Sind die Reaktionen auf das Buch nicht weniger emotional – deswegen schreibt man doch!
Ist beim Verleger auch die Emotion die treibende Kraft, die ein Buch zum Spitzentitel macht – oder nicht vielmehr die Abwägung, wie wird ein Buch zum Spitzentitel?
TJ: Zum Spitzentitel wird ein Buch in erster Linie aus eigener Kraft, aus der Kraft seiner Qualität heraus. Was aber zwingend dazu kommen muss, ist eine zündende Idee für Buch und Autor, die alle Abteilungen entflammt. In der Regel merkt man beim Lesen übrigens schnell, ob man es mit einem besonderen Text zu tun hat – oder auch nicht.
Der Akribie des Schreibens folgt also die Akribie des Lesens?
TJ: Ja. Die zündende Idee, von der ich gesprochen habe, entsteht bei der Lektüre. Wobei es im Fall von Matthias Politycki gleich mehrere Ideen waren, was damit zu tun hat, dass er so viel in diesen Roman hineingelegt hat. Das Buch erzählt ja nicht nur von einer großen Reise, von der Liebe und von den letzten Dingen; es verhandelt auch die unwahrscheinliche Freundschaft zweier völlig gegensätzlicher Figuren.
MP: Ich war ziemlich überrascht, wie anders Tim Jung den Roman gelesen hat, als ich ihn beim Schreiben empfand. Es ist ja nicht zuletzt die Neugier, also eine gewisse Blindheit, die den Schriftsteller in einen neuen Text hineintreibt. Die Handlung, ja, die hat man X mal im Kopf durchgespielt. Aber darüber hinaus weiß man wenig. Und wenn man dann schreibt, dann nur der Geschichte wegen. Nicht wegen eines Themas, einer These, einer Aussage. Ich sehe die Figuren vor mir, ich sehe die Szenen, die ich mir für sie wünsche, ich sehe die Szenenabfolge. 100 Mal habe ich vom Ende zum Anfang durchgerechnet (ja, vom Ende aus!), wie diese Abfolge schnellstmöglich erzählt werden kann. Wenn ich dann anfange, bin ich im Tunnel – ein kurzer heller Streifen vor mir, rundum Dunkel. Ich habe keine Ahnung davon, ob das ein Reiseroman, ein Freundschaftsroman, ein Liebesroman oder ein gesellschaftskritischer Roman werden wird. Ich will nur so schnell wie möglich durch den Tunnel hindurch, damit ich weiß, ob am Ende alles so geworden ist, wie geplant – oder doch nicht. Als der Roman nach einigen Monaten erzählt war, war ich geradezu entsetzt, weil alles schon wieder vorbei war. Und wurde auch gleich konfrontiert mit Interpretationen, Tim Jung schlug mir einen anderen Titel vor, eine andere Akzentuierung meiner Autorenvita, meiner Autorenfotos … und wenig später kippten die Vertreter auch noch das Cover. Alles mit guten Gründen, das schon! Aber auch eine sehr spezielle Herausforderung. Ein Buch, das geschrieben ist, ein Schriftsteller, der sich leidlich zu kennen glaubt, und dann wird alles im Verlag noch mal neu und anders gedacht … Das muss man auch wollen! Es waren jedenfalls nicht minder intensive Monate, die sich ans eigentliche Schreiben anschlossen, voller neuer Fragen an mich. Ich konnte nicht einfach wie sonst sagen, meine Arbeit ist getan, jetzt macht ihr mal.
Kann man sagen, dass es auch mutig war, dieses Buch zum Spitzentitel zu machen mit seinem doch sehr unkonventionellen Protagonisten?
TJ: Warum mutig? Im Unkonventionellen liegt doch ein ganz besonderer Reiz. Bei Matthias Politycki geht es jedenfalls um Literatur. Und von Literatur, die es verdient, in die Welt gebracht zu werden, erwarte ich, dass sie uns überrascht, uns verblüfft, uns beflügelt oder auch empört; sie kann uns auch bestätigen, aber sie muss letztlich bewirken, dass wir die Welt und uns selbst nach der Lektüre mit anderen Augen sehen – und genau das schafft dieser Roman.
MP: Übrigens sagt Kafka ja nicht, ein Buch muss die Wärmflasche sein für das gefrorene Meer in uns, sondern die Axt! Literatur darf auch mal wehtun, übrigens schon beim Schreiben. Letzten Endes ist es mir aber immer schon ein Anliegen gewesen, gesellschaftspolitische Themen zu reflektieren – im Gespräch, im Essay, im Zeitungsartikel, bei einer Podiumsdiskussion. Mein Vater hat sich während der Zeit des Nationalsozialismus fest vorgenommen – und später ausdrücklich an mich weitergegeben –, dass wir die Politik nie wieder nur den Politikern überlassen dürfen. Wir selbst müssen aktiv mitwirken, dass unser Zusammenleben als Gesellschaft funktioniert. Manchmal, wie im Fall von “Das kann uns keiner nehmen”, fließt diese Einstellung dann eben auch in einen literarischen Text ein.
In dem Roman geht es unter anderem auch darum, Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu beurteilen und auch um eine gewisse humane Haltung. Nun ist kürzlich von Ihnen der Gesprächsband “Haltung finden” erschienen, in dem Sie mit dem Philosophen Andreas Urs Sommer über Haltung und die Verteidigung der Demokratie diskutieren. Ist das Zufall?
MP: Jedenfalls habe ich nicht den Roman zur These schreiben wollen! Im Gegenteil, der Roman war viel eher da. Er fiel mir während einer Tansania-Reise im Frühjahr 2018 ein, Figuren und Handlung waren damit gesetzt. Über “Haltung finden” sind wir erst im August 2018 ins Gespräch gekommen; das Buch ist zwar schon im September 2019 erschienen, aber … ein Roman dauert halt länger. Selbstverständlich stehe ich als Schriftsteller wie als Gesprächspartner für ein und dieselbe Haltung. Parallelen zwischen beiden Büchern konnte ich also gar nicht verhindern.
Also die Singularität des Bedürfnisses und die Duplizität der Ausdrucksform?
MP: Ja.
Ist es in Zeiten politischer Aufgeregtheit nicht riskant, einen Roman als Spitzentitel herauszubringen, in dem es auch um Haltung und Politik geht bei den beiden so unterschiedlichen Protagonisten und verbirgt sich dahinter auch die Haltung des Verlages?
TJ: Ein zeitgemäßer Verlag sollte ein Resonanzraum sein, ein Forum vieler Stimmen, die sich auch widersprechen dürfen und sollen. Ich sehe die Aufgabe des Verlages darin, diesen Stimmen Gehör zu verschaffen. Es ist dann an den Leserinnen und Lesern, sich eine eigene Meinung zu bilden, sich zu begeistern oder zu echauffieren oder auch beides zugleich. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die Reaktionen, die der Roman hervorrufen wird.
MP: Das Buch ist eher ein Seufzer – in welchen Zeiten leben wir denn, dass sogar das Selbstverständliche wieder eingeklagt werden muss? Nämlich: dass eine lebendige Demokratie zunächst mal darin besteht, mit den Mitmenschen ins Gespräch zu kommen und zu bleiben, auch wenn sie anderer Meinung sind. Und nicht etwa, sie per Empörung und Ausgrenzung vom Gespräch auszuschließen, von welcher Seite auch immer.
Was macht einen Spitzentitel logistisch aus?
TJ: Bei uns wird jeder Titel von einem wohl orchestrierten Konzert an Maßnahmen begleitet, bei einem Spitzentitel ist dieses Konzert allerdings größer und lauter. Man nimmt mehr Geld in die Hand. Allerdings ist die Höhe des Marketing- und Vertriebsbudgets nicht allein entscheidend; sehr wichtig ist zum Beispiel auch eine intelligente, langfristig angelegte Presse- und Kommunikationsstrategie – und nicht zuletzt die ungebremste Begeisterung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das jeweilige Buch.
Ist man als Autor des Spitzentitels nervöser als sonst?
MP: Man spürt den Druck auf allen Etappen, die man mit dem Buch zurücklegt – während des Lektorats, bei der Herstellung, der Pressearbeit, bei Marketing und Vertrieb. Und dies in einer Welt, die viel kleinteiliger und unberechenbarer geworden ist als früher – wo man da bei drei, vier Schlüsselmedien Erfolg haben musste, muss man es heute bei 30 oder vielleicht sogar 300: Jeder Buchblogger hat sein Publikum, er kann genauso viele potentielle Leser neugierig machen wie eine Besprechung in einem Leitmedium. Ganz zwangsläufig hat man häufiger Gelegenheit, sich zu freuen – oder zu ärgern. Und ist emotional weit mehr gefordert als noch vor, sagen wir, 20 Jahren. Aber auch ganz konkret gefordert, ich muss zum Beispiel viel mehr Interviews geben als früher. Das macht mir zum Glück Spaß – und Lesungen übrigens auch. Unter Journalisten und Veranstaltern treffe ich oft Menschen, die ihre Arbeit mit Herzblut machen; wenn man das spürt, wird Arbeit immer auch zum Vergnügen.
Das Buch, die Literatur hat also, trotz aller Totsagungen, noch eine Zukunft …
TJ: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das Buch ebenso unverwüstlich wie unverzichtbar ist. Das Buch ist das Maß der Dinge für alle anderen Medien, denn nur ein Buch versetzt uns in die Lage, im eigenen Kopf einen Film zu sehen, während man einem anderen Menschen beim Denken zuhört. Wer einmal rettungslos in einem Buch versunken ist, der weiß, dass das ein einzigartiger Ausnahmezustand ist, den man mit keinem anderen Medium erreicht. Ich halte das Buch für das aufregendste Medium in unserem an Aufregern wirklich nicht armen medialen Angebot.
MP: Bücher haben deswegen eine solch ungeheure Wirkung, weil sie den Leser am Ende allein lassen. Ein raffiniert gebauter Roman hat mehr als den einen Schluss, spätestens auf der letzten Seite müssen wir uns für eine Lesart entscheiden. Der Schriftsteller ist somit vor allem einer, der seinen Stoff für diesen entscheidenden Moment arrangiert. Auf welche Weise dabei das Buch zu dem des Lesers wird, zu “seinem” Buch, ist ein immer wieder aufs Neue faszinierender Moment. Ich komme ja ursprünglich vom experimentellen Schreiben; und obwohl ich längst ein “realistischer” Erzähler geworden bin, habe ich mir die Lust an den verschiedenen Ebenen eines Textes bewahrt. Was als spielerisches Moment daherkommt, ist im Grunde tiefernst: Je mehr Möglichkeiten ein Text bietet, gelesen zu werden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Leser Freude daran findet. Und genau dafür schreibe ich.