Schritt für Schritt: Ein fantastischer „König Oedipus“ am Deutschen Theater in Berlin
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/K2PUAVAMLNAHNO5TG7N6C6ZS3A.jpg)
Nur Text und Wort – und Licht und eine Drehbühne: „König Oedipus“ am Deutschen Theater in Berlin.
© Quelle: Arno Declair
Nach einigen Minuten schießt einem ein Gedanke ins Hirn: Geht das jetzt die ganze Zeit so? Kann diese Art der Inszenierung drei Stunden lang funktionieren? Regisseur Ulrich Rasche hat für seine Bearbeitung des „König Oedipus“ komplett auf Bühnenaufbauten verzichtet. Was an diesem Abend zählt, ist Bewegung, Text, Stimme und Musik.
Zeitgenössische Regisseure greifen noch immer gern auf die alten Texte zurück. Weil ihre dramatischen Inhalte bis in unsere heutige Gegenwart ausstrahlen. Wer etwa das traurige und furchtbare Spiel von Macht, Gewalt, Rache und nochmals Rache aus Aischylos’ „Orestie“ in die Gegenwart transportieren will, muss momentan nur nach Afghanistan schauen. Was aber sagt uns Sophokles’ König Ödipus heute noch?
In Theben herrscht die Pest
In erster Linie ist dieser König aus dem vorzeitlichen Theben heute vielen deshalb bekannt, weil in der Psychologie der Ödipus-Komplex nach ihm benannt ist, der die (zu) starke Beziehung des Sohnes zur Mutter beschreibt. Es ist darüber hinaus aber auch ein vielschichtiges Stück über Herrscher und Beherrschte, über Macht und Freiheit, Vorsehung und Autonomie.
In Theben herrscht die Pest. König Oedipus, der einst die Sphinx besiegte und sich dadurch zum Herrscher der Stadt aufschwingen konnte, wird als Heilsbringer gesehen. Ein Spruch der Götter aber sagt: „Uns war, o König! Lajos vormals Herr / In diesem Land, eh du die Stadt gelenket. / Da der gestorben, will Apollon nun, / Dass man mit Händen strafe jene Mörder.“ In der Logik der antiken Götter und Herrscher kann das nur heißen: Hier unter uns lebt einer, der für das Übel verantwortlich zeichnet und mindestens vertrieben, am besten ermordet werden muss. Erst dann kann die Stadt gesunden.
Es stellt sich im Laufe der Zeit immer mehr heraus, dass es Oedipus selbst ist, der einst (unwissentlich) seinen Vater Lajos erschlug und seine eigene Mutter Jokaste ehelichte (die ihn einst aus Angst vor eben genau dieser Weissagung aussetzen lassen wollte, während ein Hirte ihn aus Mitleid einem anderen Menschen übergab).
In diesem Stück steckt aber weitaus mehr: Wie verhält sich ein Volk in Krisenzeiten, und welche Hoffnungen legt es in die Herrschenden? Warum beginnt in solchen Zeiten immer wieder die Suche nach einem Sündenbock, und was für Folgen hat das? Wie weit ist das Leben vorherbestimmt, und wie frei ist der Mensch? Wie schweißen Krisen ein Volk zusammen, dessen Identität stärker wird, je größer ein abzuwehrender Feind von außen ist? Aber es stellt auch die Frage: Wie viel Wahrheit verträgt der Mensch? Ist es nicht manchmal besser, die Akten und die Toten ruhen zu lassen? Welches Unheil bringt die nackte Wahrheit mit sich – und ist sie nicht trotzdem das Maß aller Dinge?
Das Publikum kann sich alle Gedanken machen, nichts ist vorgegeben
All diese Fragen lassen sich natürlich problemlos auf unsere heutigen Zeiten übertragen: Was hat die Corona-Pandemie für Folgen für das Verhältnis zwischen Machthabenden und Regierten? Wie stark wächst die Kluft zwischen Politik und Wahlvolk in Zeiten demokratischer Krisen? Bringt es eher Heil oder Unheil, wenn wir auch den letzten Teil der Erde, die letzte Mikrobe auf unserem Körper oder das letzte Geheimnis unserer Mitmenschen verstehen wollen?
All diese Gedanken können den Zuschauern kommen, wenn sie dem Spiel der Schauspieler und Schauspielerinnen in der aktuellen Inszenierung des „König Oedipus“ am Deutschen Theater in Berlin zuschauen. Können, aber müssen nicht. Denn Regisseur Rasche, der nach Sarah Kanes „4.48 Psychose“ nun sein zweites Stück in Berlin auf die Bühne bringt, und sein Team geben nichts vor, sie lassen nur den Text sprechen. Die Schauspieler und Schauspielerinnen bewegen sich auf einer langsam und unaufhörlich rotierenden Drehbühne. Die Akteure stemmen sich laufend gegen den Gang der Dinge und dagegen, in diesem Strom der Bewegung mitgerissen zu werden. Die Antwort ist ein Schritt gegen die sich drehende Bühne und noch ein Schritt und noch ein Schritt, drei Stunden lang. Dabei sprechen die hervorragenden Spieler wie Manuel Harder (Oedipus), Elias Arens (Kreon), Kathleen Morgeneyer (Teiresias) und Almut Zilcher (Jokaste) mit künstlicher Sprache ins Publikum, deutlich jede einzelne Silbe und jeden einzelnen Auslaut betonend. Oedipus sagt nicht „Reinigung“, sondern „Rei-niiiii-gungkkkk“.
Die Einwohner Thebens sprechen nicht miteinander, sie reden aneinander vorbei. Nur an einer Stelle schaut Oedipus seinem Schwager Kreon ins Gesicht. Der Chor (Toni Jessen, Linda Pöppel, Yannik Stöbener) spielt keine Nebenrolle, sondern ist eine entscheidend treibende Kraft. Toni Jessen hat den Chor wie immer hervorragend trainiert, sein synchrones Sprechen ist perfekt, sein Ausdruck prägend.
Zusammen mit den von einem vierköpfigen Ensemble live gespielten, stark perkussiven, dunklen Klängen wird dieses Sprechtheater zu einem Rhythmusereignis. Sprache und Sprechen werden Musik. Manchmal wähnt man sich auf einem ruhigen Hip-Hop-Konzert. Enno Trebs als Bote gelingt es dabei nahezu perfekt, seinen Text mit den Rhythmen zu einem Klangteppich zu verweben. Er ist Musik in den Ohren des Publikums.
Unter dem Licht von am Ende vier großen Leuchtringen, die die Schauspieler in unterschiedlichen Konstellationen und Farben umschweben, entsteht an diesem Abend allein durch Bewegung, Sprache, Rhythmus, Sprechen, Betonen, stimmlichen Resonanzen, Körperspannung und Kraft des Spiels ein unglaublicher Sog. Um die Anfangsfragen zu beantworten: Ja, das ging den ganzen Abend so. Und es war fantastisch.
„König Oedipus“ nach der Übertragung von Friedrich Hölderlin, eingerichtet von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens. In der Inszenierung von Ulrich Rasche. Weitere Vorstellungen am 31. August sowie am 11., 12., 29. und 30. September. Karten gibt es unter 030-28441-225.