Sänger lebt in London

Russische Rocklegende Grebenschtschikow: vom Staatsfeind zum Volkshelden und zurück

Boris Grebenschtschikow bei einem Auftritt in St. Petersburg.

Boris Grebenschtschikow bei einem Auftritt in St. Petersburg.

Ächtung, Ruhm und wieder Ächtung: Wenn einer das Wechselbad aus Glanz und Gloria und Schimpf und Schande kennt, dann ist das Boris Borisowitsch Grebenschtschikow. Jetzt ist er wieder bei der Ächtung angekommen. Da, wo alles anfing.

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Doch von vorne: 1972, im tiefsten Sowjetsozialismus, gründete der damals 19-jährige Gitarrist und Sänger gemeinsam mit dem Songwriter Anatolij Gunitskij das Musikquartett Aquarium, das zu einer der legendärsten Rockbands der Sowjetunion und später Russlands werden sollte.

In den Siebzigerjahren waren Musiker wie die von Aquarium, die sich an westlichen Vorbildern wie Bob Dylan oder den Beatles orientierten, von den kommunistischen Machthabern allerdings nicht erwünscht. Die Band operierte im damaligen Leningrad halb im Untergrund, komponierte ihre Lieder in den eigenen vier Wänden und gab häusliche Konzerte im kleinen Kreis. Nach außen hin führte der studierte Mathematiker Grebenschtschikow als Mitarbeiter einer Forschungsreinrichtung ein angepasstes Leben im Arbeiter- und Bauernstaat.

Legalisierung erst 1985

Das ging allerdings nur eine Zeit lang gut. Im März 1980 traten Grebenschtschikow und Aquarium in Tiflis beim Rockfestival Frühlingrhythmen auf. Es war eine der ersten Veranstaltungen dieser Art in der Sowjetunion, die von der Unionsrepublik Georgien genehmigt worden war. Es ging darum, systemkonformen Rockbands einen öffentlichen Auftritt zu ermöglichen. Irgendwie hatte es Aquarium als Untergrundformation ins Programm geschafft, was die Staatsmacht als Betrug empfand: Grebenschtschikow verlor seinen Job und wurde aus der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol ausgeschlossen. Für Aquarium setzte es ein Verbot.

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Erst als Michail Gorbatschow 1985 den gesellschaftlichen Umbau der Perestroika einleitete, schaffte die Band den Sprung in die Legalität. Das letzte Samisdat-Album „Desjat Strel“ („Zehn Pfeile“) erschien 1986 ohne Veröffentlichungsgenehmigung. Ein Jahr später gab das staatliche Label Melodija die erste offizielle Schallplatte der Band unter dem Titel „Aquarium“ heraus. Es folgten zahlreiche weitere Alben über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten – wie „Equinox“ (1988), „Kostroma, mon amour“ (1994) und „Thor“ (2020).

Aquarium waren im russischen Fernsehen und Radio nun laufend präsent und feierten umjubelte Auftritte im ganzen Land, aber auch in der Londoner Royal Albert Hall und im Pariser Théâtre de la Ville.

Seinen 50. Geburtstag feierte er im „Großen Kremlpalast“

Grebenschtschikow wurde mit Preisen überhäuft: 1997 erhielt er den „Triumpf“-Preis, die erste nichtstaatliche Auszeichnung Russlands und 2003 den „Verdienstorden für das Vaterland“ – für „seinen großartigen Beitrag zur Entwicklung der musikalischen Künste“. Seinen 50. Geburtstag feierte der Musiker im November 2002 bei einem Auftritt im „Großen Kremlpalast“.

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Er hatte es geschafft, seine Konzerte aus den Hinterzimmern der Leningrader Kommunalkas ins Zentrum der Macht zu verlegen. Doch nach mehr als 30 Jahren erlebt „BG“, wie Grebenschtschikow in Russland gerne genannt wird, nun ein Déjà-vu: Er wird wieder zur Persona non grata erklärt. Bereits im März hatte die Russkaja Mediagruppa (RMG) mitgeteilt, bestimmte Interpreten nicht mehr ins Programm zu nehmen, darunter auch jene von Aquarium. Der Grund für diese Entscheidung seien die harschen Äußerungen dieser Musiker gegenüber Russland im Zusammenhang mit der schwierigen Situation in der Ukraine, hieß es in der Erklärung: „Die arrogante und verächtliche Haltung der Künstler gegenüber den russischen Zuhörern“ habe der Radio-Holding keine andere Wahl gelassen, als den Vertrag mit diesen Urhebern zu kündigen.

Vorausgegangen war ein Posting Grebenschtschikows auf Instagram, in dem er in einem Video gesagt hatte: „Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist Wahnsinn.“

„Er erzählte einem großen Land im staatlichen Rundfunk, dass es andere Menschen auf der Welt gibt“

Der Künstler ist persönlich in Sicherheit, weil er schon seit Jahren in London lebt. Doch im Mai folgte der zweite Schlag gegen ihn: Seine populäre Sendung „Aerostat“ beim Staatssender Radio Russlands wurde abgesetzt. Der Moskauer Literaturkritiker und Dichter Jan Schenkman glaubt allerdings nicht, dass Grebenschtschikows klare Ablehnung der militärischen Offensive Russlands in der Ukraine der entscheidende Grund für die Einstellung der Sendung war. „Aerostat“ sei den Machthabern vielmehr schon lange ein Dorn im Auge gewesen, schreibt er in der unabhängigen Tageszeitung „Nowaja Gaseta“, die inzwischen als Exilmedium in Westeuropa für eine russische Leserschaft erscheint: „Viel weniger erstaunlich als die Streichung von BGs Bildungsprogramm aus dem Programm von Radio Russlands ist der Umstand, dass es die Sendung so lange gab – 17 Jahre lang, von 2005 an.“

In der wöchentlichen Ausstrahlung ging es Grebenschtschikow darum, Musik vorzustellen, die trotz ihres künstlerischen Wertes und ihrer Originalität kaum gespielt wird. Die Bandbreite der Songs in „Aerostat“ reichte von Rock aus den 1960er- und 1970er-Jahren bis hin zu Reggae, New Wave, Alternative Rock, Electronica, Punk, Weltmusik, Jazz, Klassik und Avantgarde.

„Boris Borisowitsch erzählte einem großen Land im staatlichen Rundfunk, dass es andere Menschen auf der Welt gibt“, sagt Schenkman, „die anders sind als wir. Sie singen andere Lieder, nicht die, an die wir gewöhnt sind. Sie drücken ihre Gefühle anders aus. Sie haben seltsame Gedanken. Sie tun seltsame Dinge. Und an all dem ist nichts auszusetzen. Es ist in Ordnung, anders zu sein und anders zu lieben.“

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Ein Wissen, das nicht genommen werden kann

Das sei eine sehr wirkungsvolle Methode gewesen, der staatlichen Propaganda zu begegnen: „Denn auf die patriotische Hysterie mit antipatriotischer Hysterie zu antworten, auf die Rufe ‚Ja, ihr seid Faschisten!‘ mit ‚Ja, ihr seid selbst Faschisten!‘ zu antworten“, schreibt Schenkman, würde man sich auf das Niveau des Gegners herunterbegeben, der in der Disziplin der Denunziation einfach besser sei.

BG sei mit seiner abstrakten Prinzipientreue lange unter dem Radar der Machthaber geblieben: „Sie bemerkten nicht, was er sagte, bis die Feldzüge losgingen. Man hatte das Gefühl, dass – na ja, er singt dort etwas für sich selbst, unterhält uns, und lass ihn.“

Das sei so gewesen, bis die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, oder bis Russland die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Donbass von 2014 an militärisch unterstützte. „Dann hieß es plötzlich: ‚Verräter, er ist gegen uns.‘“

Sein riesiges Publikum von Millionen Menschen habe BG aber immer richtig verstanden, schreibt Schenkman: „Grebenschtschikow hat die Menschen an Komplexität und Freiheit gewöhnt. Sie hörten 888 „Aerostat“-Sendungen, und dieses Wissen kann ihnen nicht genommen werden, es ist bereits vorhanden.“

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