Zwischen politischer Korrektheit und „absurder Zensur“

Abgespeckte Version: Was es mit den Änderungen in Roald Dahls Kinderbüchern auf sich hat

Neue Wörter für sein Werk: Der britische Schriftsteller und Kinderbuchautor Roald Dahl mit seiner Familie. (Undatierte Aufnahme). Vom Verlag vorgenommene Textänderungen in einer neuen Auflage der Kinderbücher Dahls sorgen in Großbritannien für eine Diskussion.

Neue Wörter für sein Werk: Der britische Schriftsteller und Kinderbuchautor Roald Dahl mit seiner Familie. (Undatierte Aufnahme). Vom Verlag vorgenommene Textänderungen in einer neuen Auflage der Kinderbücher Dahls sorgen in Großbritannien für eine Diskussion.

Beleibte Menschen in der Popkultur sind meist gemütlich, schlagkräftig und – verletzlich. Oliver Hardy, der Dick bei „Dick und Doof“ ist solch ein Beispiel. Obelix, der Comic-Gallier, ein anderes. Zuweilen ist die Leibesfülle wichtig für die Figur respektive das Erzählte. So muss Davie Hogan in Stephen Kings als „Stand By Me“ verfilmter Novelle „Die Leiche“ dick sein und als „Schmalzarsch Hogan“ verspottet werden, damit seine Rache an allen ihn Hänselnden die nötige Fallhöhe bekommt.

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Und der von Autor Roald Dahl als „enorm fett“ bezeichnete Augustus Glupsch aus dem Kinderbuch „Charlie und die Schokoladenfabrik“ leidet an einer Essstörung, die ihn permanent zur Nahrungsaufnahme veranlasst – was für seine Aussichten im vom Süßigkeitenfabrikanten Willy Wonka ausgerufenen Selbstbeherrschungswettbewerb nicht unerheblich ist.

Aus dem „enorm fetten“ Jungen wird ein „enormer“ Junge

Jetzt aber hat sich Augustus Glupsch verändert. Die Verantwortlichen des englischen Verlags Puffin Books (zu Penguin Random House gehörig) und des britischen Kollektivs „Inclusive Minds“ haben die bei Puffin verlegten Bücher des britischen Autors überarbeitet. „Inclusive Minds“ streben danach, Kindergeschichten inklusiver zu machen. Und so soll Augustus Glupsch, der gefräßige Gegner des Titelhelden Charlie, nicht mehr „enorm fett“ sein, sondern nur noch „enorm“.

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„Roald Dahl goes PC“ verwies der britische „Telegraph“ auf die neue „political correctness“. Aber wäre dann in dieser Logik ein „extrem dünner“ Charakter, um nicht in Gefahr zu laufen, wegen seiner hageren Gestalt verunglimpft werden, nicht auch nur noch „extrem“? Dahls Figur des Augustus Glupsch, der in beiden Verfilmungen von 1971 und 1975 übrigens aus Deutschland stammt, wird in der Neuversion weniger gut vorstellbar. Und Glupschs Entwicklung – er geht am Ende ja verschlankt aus der Originalgeschichte – nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar.

Dahls Hexen steigen auf: „Kassiererin“ wird zur „Topwissenschaftlerin“

Der 1990 verstorbene Roald Dahl schrieb außer Kinderbüchern Militärprosa und schwarzhumorige Geschichten für Erwachsene, in denen etwa in einem Todesfall ermittelnde Polizisten unwissentlich die inzwischen durchgebratene Mordwaffe – eine gefrorene Lammkeule – verspeisen. 200 Millionen Bücher hat Dahl weltweit verkauft – ein Superseller. Und er schrieb 1968 das Drehbuch zum Musical „Tschitty Tschitty, Bang Bang“ und 1969 zu dem James-Bond-Film. „Man lebt nur zweimal“.

Jetzt also gibt es – 33 Jahre nach seinem Tod – ein zweites Leben für Dahls Kinderbücher. Eines, bei dem Hunderte Textstellen geändert werden – „mit Blick auf ein modernes Publikum“, wie es bei Puffin Books heißt. Da verändern sich etwa die beruflichen Möglichkeiten für die Zauberinnen in „Hexen hexen“, die einst „Supermarktkassiererin oder Schreibkraft für einen Geschäftsmann“ (Original von 1964) werden konnten, heute aber „Topwissenschaftlerin oder Geschäftsführerin“ (aktuelle Neuauflage). Das Wort „schwarz“ wird aus der Beschreibung der fiesen Traktoren in „Der fabelhafte Mr. Fox“ entfernt.

Das Werk Dahls wurde so auf die Höhe des woken Zeitgeists gebracht – der Fortschritt der weiblichen Emanzipation wird eingearbeitet, jede Möglichkeit einer rassistischen Bezugnahme eliminiert. Gut möglich aber, dass sich jetzt Schreibkräfte oder Angestellte im Einzelhandel herabgewürdigt fühlen.

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PEN-Chefin Nossel: Anpassung literarischer Werke „gefährliche neue Waffe“

Das Vorgehen des Dahl-Verlags stieß dem britischen Premierminister Rishi Sunak sauer auf, der sich in der Tageszeitung „The Telegraph“ äußerte, „Verleger sollten nicht an Worten herumspielen“. Der Dichter Salman Rushdie machte sich bei Twitter Luft: Roald Dahl sei „kein Engel“ gewesen, schrieb er, „aber DIES ist absurde Zensur. Puffin Books und der Dahl-Nachlass sollten sich schämen.“

Suzanne Nossel, Menschenrechtsanwältin und Vorstandsvorsitzende von PEN America sieht in der „selektiven Bearbeitung, um literarische Werke an bestimmte Empfindlichkeiten anzupassen, eine gefährliche neue Waffe“. In einem Tweet zu den Dahl-Bearbeitungen mahnte Nossel: „Diejenigen, die bestimmte Bearbeitungen von Dahls Werk befürworten, sollten bedenken, wie die Macht, Bücher umzuschreiben, in den Händen derjenigen eingesetzt werden könnte, die ihre Werte und Empfindlichkeiten nicht teilen.“

Roald-Dahl-Klassiker: Augustus, Charlies Gegenspieler aus "Charlie und die Schokoladenfabrik", wird im Buch nicht mehr "enorm fett" sondern "enorm" genannt.

Roald-Dahl-Klassiker: Augustus, Charlies Gegenspieler aus "Charlie und die Schokoladenfabrik", wird im Buch nicht mehr "enorm fett" sondern "enorm" genannt.

Und die „Daily Mail“- und BBC-Kolumnistin Samantha Smith schrieb: „Sollten Sie denken, dass dies wie etwas aus ,1984′ klingt … dann, weil das auch genauso ist.“ Zur Erinnerung – in seinem dystopischen Roman „1984″ hatte George Orwell vor 75 Jahren über die Kulturpolitik im Überwachungsstaat Ozeanien geschrieben: „Jede Aufzeichnung wurde vernichtet oder gefälscht, jedes Buch umgeschrieben, jedes Bild neu gemalt, jede Statue und jedes Straßengebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieser Prozess geht Tag für Tag und Minute für Minute weiter. Die Geschichte ist stehen geblieben.“

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Dahl selbst hatte die Umpa-Lumpas verändert

Dahl wurde bereits zu Lebzeiten mit dem Vorwurf von Rassismus und Kolonialismus konfrontiert – schon unmittelbar nach Erscheinen von „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Die Umpa-Lumpas, die für den Unternehmer Willy Wonka arbeiten und an denen er auch Experimente durchführt, wurden im Original von 1964 als Pygmäenvolk aus Afrika eingeführt. Die „National Association for the Advancement of Colored People“ kritisierte die Darstellung vehement: Sie verstärke Vorurteile gegenüber Schwarzen und reproduziere überholte Argumente zur Rechtfertigung der Sklaverei.

Dahl beteuerte, nichts dergleichen beabsichtigt zu haben. Er änderte für weitere Auflagen des Buches das Aussehen der Umpa-Lumpas, ließ ihren Herkunftsort jetzt offen. Der Kolonialismus blieb indes weiterhin Kritikpunkt – das namentlich ungenannt bleibende Heimatland der Umpa-Lumpas war weiterhin tropisch, Willy Wonka bezog weiterhin Rohstoffe von dort für seine Schokoladenproduktion.

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Philip Pullman: Lieber keine Neuauflagen als Veränderungen

Der Schriftsteller Philip Pullman, selbst Verfasser von Kinder- und Jugendbüchern und Schöpfer der jüngst als Serie verfilmten „His Dark Materials“-Fantasyromane, tritt in der Dahl-Debatte für die Unantastbarkeit des Kunstwerks ein, für das Recht eines Schriftstellers auf seine ureigene Sprache und Wortwahl. Lieber, so schrieb er bei Twitter, würde er die Bücher des Kollegen Dahl nicht neu aufgelegt sehen, als von fremder Hand umgeschrieben.

Andere machten weniger radikale Vorschläge. Wem Bücher wegen einzelner Worte nicht zusagten, der könne sie ja durch Nichtkaufen seinem Buchregal vorenthalten.

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