Chronist der Bundesrepublik

Im Bilde: So erlebte der offizielle Olympiafotograf Karsten de Riese die Spiele 1972

Das Dach des Olympiastadions von oben: Dieses seltene Bild schoss Karsten de Riese.

Das Dach des Olympiastadions von oben: Dieses seltene Bild schoss Karsten de Riese.

Als das Internationale Olympische Komitee (IOC) rief, steckte Karsten de Riese in einer riesigen Röhre. Der Fotograf hatte mühsam eine der 58 engen Pylonen – die bis zu 80 Meter hohen Masten halten bis heute das futuristische Dach des Münchner Olympiastadions – von innen erklommen. Er brauchte die Sicht von oben, von ganz oben. Von dort wollte er an diesem Sommertag des Jahres 1972 Fotos über das gesamte Gelände hinweg aufnehmen. Doch dann kam die Lautsprecherdurchsage.

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Für Karsten de Riese, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden ist, haben sich im Laufe seiner langen Karriere immer wieder Türen geöffnet. Er sprach mit den richtigen Menschen, traf den richtigen Ton, weckte Vertrauen. Mit Willy Brandt war es so. Mit John Cage war es so. Mit Jimmy Carter war es so. Und auch Berthold Beitz zeigte sich von dem damals gerade 30-Jährigen offenbar so angetan, dass das IOC-Mitglied dem Mann mit der Kamera die Tür in eine der hermetisch abgeschlossenen Versammlungen des Komitees öffnen wollte.

Vom Olymp würde man ja gern mal ein Foto sehen

Nun sollte es so weit sein, der Lautsprecher rief. „Muss das gerade jetzt sein?“ Das war es, was Karsten de Riese hoch oben über der Olympiastadt in dem Moment dachte. „Ausgerechnet jetzt?“ So erzählt er es in seinem Haus südlich von München. Ja, es musste gerade jetzt sein. Und so nahm de Riese den Weg leiterabwärts – nur um sich kurze Zeit später im Münchner Maximilianeum, wo das IOC für die Dauer der Spiele geradezu residierte, erneut in einer hohen, besser: abgehobenen Sphäre wiederzufinden. Er meint es hörbar nicht positiv, wenn er sagt: „Ich dachte, ich bin hier im Olymp. Es war totenstill, eine merkwürdige Bannung lag über diesem riesigen Raum.“

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Aber vom Olymp würde man ja auch gern mal ein Foto sehen, also suchte sich de Riese einen geeigneten Platz in dieser IOC-Vollversammlung. Er hatte genau einmal auf seinen Auslöser gedrückt, als IOC-Präsident Avery Brundage seine Rede vor den Olympiern unterbrach und fragte: „Was machen Sie hier?“ Da wurde de Riese klar, dass Berthold Beitz für ihn zwar eine Tür geöffnet, aber sich nicht um die Aufenthaltserlaubnis gekümmert hatte. Karsten de Riese flog raus, hochkant könnte man sagen. Aber: „Bis dahin gab es noch nie ein Bild von einer solchen IOC-Versammlung. Meines war also das erste.“

Das ist es, worauf es Karsten de Riese zeit seines Lebens ankommt. Er will ein Bild machen. Nicht aber, ohne zuvor sich selbst ein Bild gemacht zu haben. Er ist kein Dienstleister, kein Ausführender. Er versteht sich nicht als Auftragsfotograf. Er ist ein mitdenkender, mitfühlender, selbstbewusster Begleiter der Zeitläufte. De Riese begleitet mit seiner Arbeit Menschen und Vorgänge, die ihn berühren. „Ich bin als Fotograf auch verantwortlich für meine Aufträge und wie ich daran arbeite.“ So sieht er seine Aufgabe.

Karsten de Riese kommt 1942 in Eisenach am Fuße der Wartburg zur Welt. Aufwachsen wird er dann aber in Göttingen. Die mentale Verbindung zu seiner Geburtsstadt wird ihn Jahrzehnte später zu einer Fotoserie über die deutsch-deutsche Grenze motivieren. Für ihn ist die Grenze nicht nur etwas Trennendes, sondern auch Verbindendes. Also stellte er beim Außenministerium der DDR einen Antrag, die Grenze auch von der östlichen Seite zu fotografieren. Wie er nach der Wende erfuhr, wurde sein Ansuchen immerhin im Politbüro diskutiert – und mit sechs gegen neun Stimmen abgelehnt.

Otl Aicher holt ihn zu Olympia

Die Schule schließt Karsten de Riese nicht ab, stattdessen findet er zunächst einmal einen Ausbildungsplatz bei dem renommierten Porträt- und Theaterfotografen Kurt Julius in Hannover. „Wir haben uns Jahrzehnte später noch einmal gegenübergesessen, aber ich habe ihm damals nicht sagen können, was er für meinen Weg bedeutet hat. Ich habe es später tief bereut.“ Es ist das erste, aber nicht das letzte Mal, dass de Riese auf Menschen trifft, die in ihm etwas sehen, etwas erkannt haben. Menschen, die ihn fördern, unterstützen, auch mal in die richtige Richtung führen.

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50 Jahre Münchner Olympia-Attentat

Am 05. September 1972 überfielen 8 palästinensische Terroristen die israelische Olympiamannschaft. Die Aktion endete in einer Tragödie.

Otl Aicher war auch so ein Mensch. Mitte der Sechzigerjahre bekommt der gebürtige Schwabe, der zum Freundeskreis der Scholl-Geschwister Sophie, Hans und Inge gehörte und der Inge Scholl später heiratete, einen Riesenauftrag: Aicher wird Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele von München. Er soll helfen, dem sportlichen Großereignis genauso wie am besten gleich der ganzen Bundesrepublik ein neues Gesicht zu geben, ein anderes als die hässliche Fratze, die Olympia 1936 in Berlin zeigte. Aicher fasst die Aufgabe, der Welt ein neues Deutschland zu zeigen, einmal in einem Satz zusammen: „Es kommt weniger darauf an zu erklären, dass es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen.“

Dafür wird innerhalb des Organisationskomitees eine eigene Abteilung, die Abteilung XI, gegründet. Aicher steht ihr vor und holt 1969 den jungen Fotografen Karsten de Riese, den er von der Hochschule für Gestaltung in Ulm kannte, ins Team. Anfangs windet sich de Riese noch ein wenig, aber dann sagt er doch zu und kann sich heute „offiziell beauftragter Fotograf für das Organisationskomitee“ der Spiele von 1972 nennen.

Karsten de Riese geht es immer wieder um Begegnungen

Für Broschüren, Tätigkeitsberichte, Bulletins, Pressemitteilungen liefert de Riese zwischen 1969 und 1972 Bilder. Er fotografiert das entstehende Olympiastadion mit dem heute noch unfassbaren Dach, entworfen von Günter Behnisch. Er lichtet den entstehenden, als „Demokratisches Grün“ bezeichneten Olympiapark von Günther Grzimek ab, der heute noch von Münchnern als Spaziergehweg und Ausruhoase genutzt wird – wie überhaupt Olympia 1972 mit seinen Bauten ein Musterbeispiel für die nachhaltige Nutzung eines Olympiageländes ist. Er hält in seinen Bildern Arbeiter fest – und sowieso immer: Menschen, Menschen, Menschen. De Riese geht es um Begegnung.

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Im Vorfeld der Spiele kamen zahllose Menschen nach München, Menschen, die aus anderen Kulturen und Ländern stammten. De Riese sog diese Zeit auf. „München war Ende der Sechzigerjahre noch ein verschlafener Ort. Aber plötzlich kamen Menschen aus mehr als 130 Ländern dorthin“, erinnert er sich. „Ich dachte damals: Plötzlich sind hier mal Menschen mit Stoppelbart, Menschen mit dunkler Haut, Menschen mit ganz anderen Verhaltensweisen. Und die brachten ja nicht nur ihr Lächeln oder ihren anderen Habitus mit in die Stadt, sondern zum Beispiel auch ihr Essen. Da gab es plötzlich in den Gemüseläden Dinge, die man vorher noch nie gesehen hatte.“

Chronist der Bundesrepublik: Karsten de Riese.

Chronist der Bundesrepublik: Karsten de Riese.

In der Bundesrepublik gingen seit Ende der Sechziger die Fenster auf, frische Luft strömte ins Land. Willy Brandt wollte „mehr Demokratie wagen“, protestierende Studentinnen und Studenten lüfteten die Talare ihrer Professoren, in vielen Bereichen wurden Mitbestimmung und Teilhabe erstritten, Frauen erkämpften ihre Rechte, und Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel sagte: „Eine Gesellschaft muss sich auch einmal frei machen von reinen Nützlichkeitserwägungen.“ Karsten de Riese hielt diesen Einfall der Welt ins leicht verschlafene München in seinen Bildern fest, unter anderem in einer Serie über internationale Arbeiter.

Mutige Polizistin von München

Die Olympischen Spiele 1972 waren heitere, helle, bunte Spiele. Doch nach zehn Tagen kletterte in den Morgenstunden des 5. September das Böse, Dunkle, Gewaltsame über den Zaun des olympischen Dorfs. Palästinensische Attentäter kidnappten und ermordeten am Ende elf israelische Athleten. Auch für Karsten de Riese waren diese Morde an wehrlosen Sportlern eine Zäsur. „Ich habe davon am Morgen im Radio erfahren. Und ich war so betroffen, dass ich dachte: Du kannst da nicht mehr hingehen, du kannst da nicht mehr fotografieren. Und die Spiele dürfen auch nicht weitergehen.“ Er habe sich später aber seines Auftrages erinnert und sei zum olympischen Dorf gefahren.

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„Ich habe dann dort nicht im Sinne eines Kriegsberichterstatters agiert, der Schlüsselszenen fotografieren will, sondern nur das Geschehene als solches aus einiger Distanz fotografiert: die maskierten Gesichter der Geiselnehmer oder die mutige Polizistin, die den Kontakt zu den Tätern hielt.“ Und dann erzählt de Riese noch, dass in München mal eine Ausstellung mit seinen Bildern zum Thema Olympia gezeigt wurde. Aus dieser Ausstellung heraus wurde genau dieses eine Bild gestohlen, das Bild von der mutigen Polizistin in Rock und weißer Bluse.

Man würde de Riese aber nicht gerecht werden, würde man ihn auf Olympia 72 reduzieren. Er hatte einen ersten großen Auftrag, da war er noch keine 25 Jahre alt. Der Piper-Verlag schickte ihn zu einem der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, zum großen deutschen Nachkriegsgewissen, zu Karl Jaspers nach Basel. Jaspers war damals schon sehr krank und de Riese sollte bitte nach 20 Minuten seine Arbeit erledigt haben. Bittschön keinen Stress für den Herrn Professor.

„Jaspers‘ Frau öffnete mir die Tür, ganz in Schwarz gekleidet, sie empfing mich nicht gerade besonders euphorisch. Sie führte mich in einen großen Raum, der voll mit Büchern und ziemlich dunkel war.“ Jaspers saß im Sessel und rührte sich nicht. De Riese sei das Herz in die Hose gerutscht: „Diese Lichtverhältnisse, dieser steife Mann dort, um Gottes willen!“

Aber dann, so erzählt der groß gewachsene 80-Jährige, sei es wieder eine dieser Erfahrungen mit einem Menschen gewesen, die sein Leben geprägt haben. „Jaspers fragte mich nach meinem Vater. Damit hatte er einen wunden Punkt bei mir erwischt. Und er erzählte mir von seinem Verhältnis zu seinem Vater.“

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Der Nachmittag, der sehr viel länger dauerte als 20 Minuten, riss de Riese derart mit, dass er fast vergaß zu fotografieren. „Jaspers nahm mich einfach mit in seine Welt. Als ich sein Haus verließ, war ich nicht sicher, ob überhaupt Bilder entstanden waren. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn fotografiert zu haben.“ Aber de Riese hatte. Ein paar Wochen später begegnete ihm das Foto wieder: Karl Jaspers schaute ihn vom „Spiegel“ an. Das Magazin hatte das Bild vom großen Denker auf dem Titel gedruckt. „Es war mein erster ‚Spiegel‘-Titel, und von diesem Honorar konnte ich erst einmal ein paar Monate meine Miete bezahlen.“

Mit Willy Brandt am Strand

Wenn man Karsten de Riese zuhört, geht man auf eine Reise durch die deutsche Nachkriegsgeschichte. Mit Willy Brandt war er beim damaligen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew in der Sowjetunion. Mit Brandt war er auch in Algerien und Ägypten, während dessen letzter Auslandsreise als Kanzler. Doch die Fotos konnten lange Zeit nicht erscheinen. Denn zwei Tage, nachdem die Delegation nach Deutschland zurückgekommen war, trat Brandt wegen der Spionageaffäre um Günter Guillaume zurück.

Auf dieser Reise entstand auch ein ikonisches Bild von Brandt mit dessen Sohn Lars am Strand. „Es war ein Samstag, und ich wusste, der Bundeskanzler hatte am Sonntag einen freien Tag. Also sprach ich seinen Pressesprecher Rüdiger von Wechmar an, aber der wiegelte ab: Ich müsse das verstehen, aber der Kanzler brauche auch einmal freie Zeit.“ Doch das passte de Riese nicht so richtig. Er blieb einfach auf der Stelle stehen, kurz danach kam Willy Brandt an ihm vorbei. Er versuchte noch einmal sein Glück, sprach den Kanzler direkt an – und durfte ihn am nächsten Tag begleiten. „So entstehen Bilder“, sagt de Riese. Wieder war eine Tür aufgegangen.

Geduld ist alles: Für dieses Foto von Willy Brandt und dessen Sohn Lars musste Karsten de Riese Überzeugungsarbeit leisten.

Geduld ist alles: Für dieses Foto von Willy Brandt und dessen Sohn Lars musste Karsten de Riese Überzeugungsarbeit leisten.

Das Gesamtwerk von Karsten de Riese umfasst rund 390 000 Bilder. Er hat zehn Jahre lang Vertreter der Neuen Musik fotografiert, John ­Cage, Hans Werner Henze, Luigi Nono, Karl-Heinz Stockhausen. Er hat Aufträge von Unternehmen übernommen, er fotografierte drei Legislaturperioden im Deutschen Bundestag. Er begleitete 1978 den Wiederwahlkampf des hessischen SPD-Ministerpräsidenten Holger Börner. Er porträtierte 1977 Joseph Beuys auf der documenta 6 an der „Honigpumpe am Arbeitsplatz“. Und er hat Väter und Söhne für ein Buch abgelichtet, das leider nur noch antiquarisch erhältlich ist. Jan Weiler und Sohn Tim sind zum Beispiel zu sehen, Max Mannheimer mit Sohn Ernst, Michael Verhoeven mit den Söhnen Simon und Luca.

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„Ich möchte“, hat Karsten de Riese einmal an anderer Stelle gesagt, „dass sich meine subjektiven Wahrnehmungen in meinen Bildern widerspiegeln. Damit will ich nicht bewerten, sondern anregen, genau hinzuschauen.“ Wer auf seinen Bildern genau hinschaut, erkennt das, was heute in vielen Bereichen so oft fehlt: Menschlichkeit.

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