Neue Berlinale-Leitung: “Wir diskutieren erst über den Film, dann über den Star”

Das Leitungsduo der Berlinale, Carlo Chatrian, künstlerischer Direktor, und Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin.

Das Leitungsduo der Berlinale, Carlo Chatrian, künstlerischer Direktor, und Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin.

Berlin. 18 Jahre lang war Dieter Kosslick das Gesicht der Berlinale. Nun tritt in diesem Jahr ein Duo in die Fußstapfen des Berlinale-Direktors: Carlo Chatrian, künstlerischer Direktor, und Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin. Im RND-Interview sprechen die beiden Neuen über die Wahl zwischen Smoking und Shorts, Tränen im Publikum und rote Teppiche, die in Berlin grün sind.

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Herr Chatrian, vermissen Sie die angenehmen Temperaturen Ihrer früheren Arbeitsstätte in Locarno?

Chatrian: Sie meinen jetzt vermutlich nicht nur das Wetter ... In Locarno habe ich mich als Festivalleiter in einer Komfortzone bewegt. Gesprochen wurde meine Muttersprache Italienisch – wobei ich inzwischen Deutsch zwar verstehe, aber lieber noch Englisch spreche. Ich vermisse Locarno nicht, bin mir jedoch bewusst, dass die Herausforderungen bei der Berlinale größer sind – und auch aufregender.

Frau Rissenbeek, was hat Sie überrascht, als Sie den Job in Berlin antraten?

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Rissenbeek: Die Offenheit der Berlinale-Mannschaft, die Bereitschaft so vieler, sich auf Neues einzulassen und Dinge auch mal ganz anders zu machen.

Wie wichtig ist die Berlinale für Berlin?

Chatrian: Nach meinem Empfinden ist die Berlinale eine Feier für ganz Berlin – sogar für jene Berliner, die gar nicht zum Festival kommen. Sie sind stolz auf die Berlinale und identifizieren sich mit ihr. Die Berlinale ist wie diese Stadt: glamourös, aber zugleich entspannt. Man kann im Smoking auflaufen, aber ebenso in Shorts.

Heißt das, dass Sie an der bisherigen legeren Kleiderordnung festhalten – und nicht wie in Cannes die große Abendgarderobe erwarten?

Rissenbeek: Jeder soll tragen, was er mag. Manche ziehen sich gern schön an, andere kommen in Alltagsklamotten.

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Sie haben einen düsteren Wettbewerb vorausgesagt. Werden Tränen fließen im Publikum?

Chatrian: Die Dunkelheit hat Abstufungen. Wir haben Filme, die das Publikum mit ihrer emotionalen Wucht zum Weinen bringen werden. "Schwesterlein" über ein Zwillingspaar und den Tod dürfte viele berühren. Und dann sind da Filme wie "Siberia" von US-Regisseur Abel Ferrara, der sich an die inneren Dämonen eines Mannes wagt. Das Gesamtbild fällt weniger sonnig aus, als wir uns dies gewünscht hätten. Aber die Filme spiegeln nun einmal die Welt, in der wir leben.

Hollywood findet kaum statt bei der 70. Berlinale. Warum nicht?

Chatrian: Oh, wir haben doch den neuen Pixar-Animationsfilm "Onward" im Programm oder "The Roads Not Taken" von Sally Potter, den das Universal-Studio herausbringt.

Wird es mehr Hollywood geben, wenn die Berlinale zeitlich wieder vor den Oscars startet?

Chatrian: Das dürfte nicht so viel ändern. Die Berlinale liegt nicht in der Einflugschneise der US-Preissaison. Aber, klar, wir zeigen auch gern Hollywoodfilme.

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Bei wie vielen Stars sind Sie mit dem Versuch abgeblitzt, sie nach Berlin zu locken?

Chatrian: Stars kommen mit Filmen, so funktioniert die Berlinale. Die Reihenfolge lautet: Wir diskutieren erst über den Film, dann über den dazugehörigen Star. Nur beim Ehrenbären für Helen Mirren ist das anders.

Und wer kommt nun?

Chatrian: Sigourney Weaver, Roberto Benigni, Cate Blanchett, Johnny Depp, Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek – dazu die Deutschen Paula Beer, Franz Rogowski, Lars Eidinger und Nina Hoss. Und vor allem: Sie alle haben gute Filme im Gepäck.

Stichwort Coronavirus: Wie wollen Sie die chinesischen Regisseure nach Berlin bringen, wenn keine Flugzeuge fliegen?

Chatrian: Wir müssen abwarten. Regisseure wie Jia Zhangke wollen definitiv kommen. Ob das klappt, hängt weder von ihnen noch von uns ab.

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Rissenbeek: Wir stehen in Kontakt mit dem Robert Koch-Institut und mit dem Bundesgesundheitsamt. Und wir treffen Vorkehrungen. Wir schulen das Einlasspersonal, was zu tun ist, wenn jemand krank ist. Wir haben viele Gäste aus Asien und müssen sicherstellen, dass das niemand als Bedrohung empfindet. Ganz gewiss werden wir ausgiebig Desinfektionsmittel bereitstellen.

Überall protestieren Menschen gegen Ungerechtigkeit. Wie politisch wird die 70. Berlinale?

Rissenbeek: Wenn Gäste politisch Stellung beziehen wollen, dann dürfen sie das gern. Javier Bardem und ökologische Belange zum Beispiel: Das gehört zusammen. Von unserer Seite ist aber keine Aktion geplant.

Chatrian: Wir haben politische Filme, etwa "Minamata" mit Johnny Depp über Quecksilbervergiftungen in Japan. Einer der engagiertesten Filme ist "There Is No Evil" des Iraners Mohammad Rasulof über die Todesstrafe im Iran – wir hoffen, dass Rasulof aus Teheran anreisen darf. Und der kambodschanische Film "Irradiated" erzählt davon, was der Krieg mit Menschen macht. Auch Hillary Clintons Besuch dürfte politisch ausfallen. Meiner Ansicht nach sind Filme immer politisch – und Kino ist aussagekräftiger als manches politische Statement.

Jeremy Irons ist mit frauenfeindlichen Aussagen in den Dunst der #MeToo-Debatte geraten: Hätten Sie sich für einen anderen Jurypräsidenten entscheiden sollen?

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Chatrian: Was Jeremy Irons über Frauen gesagt hatte, wussten wir schon vorher – und wir wussten vor allem, dass er seine Meinung revidiert hatte. Er hat seine Worte öffentlich schon vor Jahren bedauert. Wir sehen keinen Grund, einen großartigen Filmkünstler wie Jeremy Irons nicht zum Jurypräsidenten zu berufen.

Werden Sie als Berlinale-Chef den Tag erleben, an dem im Wettbewerb ebenso viele weibliche wie männliche Filmemacher antreten?

Chatrian: Warum nicht?

Weil es das bislang noch nie gab – und im Wettbewerb 2020 stehen nur sechs Regisseurinnen.

Chatrian: Geschlechtergleichheit hätte prinzipiell auch schon in diesem Jahr der Fall sein können. Sie darf nur kein Zwang sein. Wenn wir nur auf dieses eine Ziel starren, verpassen wir womöglich die Filme – ganz unabhängig davon, wer sie gemacht hat. Aber klar, das Kino hat noch einen weiten Weg vor sich. Wir müssen Frauen mehr Raum geben – genauso wie Minderheiten.

Rissenbeek: Die Wahrnehmung dieses Themas ist inzwischen immens – und dies ist schon eine gute Voraussetzung für zunehmend mehr Ausgewogenheit.

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Nachhaltigkeit ist ein großes Berlinale-Thema. Trotzdem fliegen Sie so viele Gäste aus aller Welt ein. Wie passt das zusammen?

Rissenbeek: Das ist ein unauflösbarer Widerspruch. Aber wir können schlecht Besucher aus den USA oder aus Korea bitten, mit dem Zug anzureisen. Wir versuchen aber, unseren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern: Wir verwenden die roten “grünen” Teppiche des Vorjahres, die aus recyceltem Plastikmüll aus dem Meer gemacht wurden. Seit Jahren nutzt die Berlinale nur Ökostrom, ebenso reduzieren wir permanent unseren Papierausstoß.

Wie oft ruft Ihr Vorgänger Dieter Kosslick an?

Rissenbeek: Wir tauschen uns per E-Mail aus.

Wie würden Sie einem Außerirdischen erklären, was die Berlinale besonders macht?

Rissenbeek: Filme sind emotional. Sie bringen Themen anders zu Menschen als Zeitungen. Diese Aufgabe erfüllt die Berlinale für eine halbe Million Zuschauer.

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Chatrian: Ich würde den Außerirdischen um 8 Uhr morgens mitnehmen zur Berlinale-Ticketschlange. Dann würde er sogleich erkennen, dass Kino eine ebenso wichtige Nahrung darstellt wie jene, mit der wir unsere Mägen füllen.

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