Mein Lebenslauf ist auch nicht besser als der von Annalena Baerbock

„Gibt es etwas, das wir wissen sollten?“: Für Politiker im Wahlkampf birgt der eigene Lebenslauf Zündstoff.

„Gibt es etwas, das wir wissen sollten?“: Für Politiker im Wahlkampf birgt der eigene Lebenslauf Zündstoff.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock hat gerade ein bisschen Ärger: Ihr Lebenslauf war nicht ganz präzise. Wir berichteten gelegentlich. Ich darf zusammenfassen: Sie war nicht Mitglied des German Marshall Funds, sondern nur Alumna des Marshall Memorial Fellowship vom German Marshall Fund. Und sie ist nicht Mitglied des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, sondern Unterstützerin der UN-Flüchtlingshilfe, die wiederum deutscher Partner des UNHCR ist. Das sind alles gar förchterliche Verbrechen.

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Denn was ich nicht wusste: Derlei kosmetische Aufpolierungen in der Vita einer unter-50-jährigen Grünen-Politikerin wiegen offenbar viel schwerer als blanke Korruption, die Tolerierung stramm rechter Positionen oder undurchsichtige Millionendeals mit Corona-Masken in anderen angeblich bürgerlichen Parteien. Hinzu kommt, dass stringente Lebensläufe in Deutschland kultische Verehrung genießen. Merke: „Ohne Diplome an der Wand / Bist du nichts in diesem Land.“

Nicht Mitglied des German Marshall Funds, sondern nur Alumna des Marshall Memorial Fellowship vom German Marshall Fund: Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.

Nicht Mitglied des German Marshall Funds, sondern nur Alumna des Marshall Memorial Fellowship vom German Marshall Fund: Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.

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Sich als Politiker von Konzerninteressen leiten zu lassen oder als Verkehrsminister viele Millionen Euro Steuergeld zu verbrennen ist offenbar kein Problem. Wenn du aber in diesem Land nicht klar nachweisen kannst, was du von November 1992 bis Februar 1993 beruflich gemacht hast und wie viele Rentenpunkte du dabei erworben hast, hast du deinen Anspruch auf gesellschaftliche Mitbestimmung verwirkt und endest im Schamkerker.

Kosmetische Aufpolierungen in der Vita einer Grünen-Politikerin wiegen offenbar viel schwerer als blanke Korruption, die Tolerierung rechtsradikaler Positionen oder undurchsichtige Millionendeals mit Corona-Masken in anderen angeblich bürgerlichen Parteien.

Ich habe daraufhin meinen eigenen Lebenslauf einer strengen Prüfung unterzogen, man weiß ja nie. Wenn Armin Laschet Bundeskanzler werden kann, dann kann es jeder. Und die personelle Not ist groß in den deutschen Parteien. Einmal nicht aufgepasst – und zack sitzt du in irgendeinem Parteigremium bei miesem Filterkaffee und Bröselplätzchen. Und bevor dann ein unterbeschäftigter österreichischer Medienwissenschaftler meine Vita zerpflückt wie eine Katze einen Kanarienvogel, tue ich es lieber selbst. Nachher sollst du Minister für Gedöns werden, und vor dir sitzen drei karierte Parteigeheimdienstler und fragen mit ernsten Mienen: „Bevor wir die Pressemeldung herausgeben, Herr Grimm: Gibt es etwas, das wir wissen sollten?“

Im Sinne der totalen Toleranz gebe ich hiermit also öffentlich zu:

1. Ich habe nicht Literaturwissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert, sondern lediglich 1987 beim Gedichtwettbewerb der Barmer-Ersatzkasse mit einem selbst verfassten Poem den zweiten Platz erreicht. Die ersten beiden Zeilen lauteten: „Es tritt aus seines Hauses Tür / Herr Jakob Wilhelm Schmitz herfür.“

2. Ich habe nicht bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville Silber im Abfahrtslauf der Herren geholt, sondern bin lediglich 1984 beim Skirennen auf dem Babyhügel einer Schweizer Skischule Dritter von fünf Teilnehmern geworden. Immerhin: Bronze.

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3. Ich habe nicht beim Großen Preis von Monaco 1986 den zweiten Platz hinter Alain Prost im McLaren erreicht, sondern lediglich 1994 beim ADAC-Sicherheitstraining in meinem alten Renault 5 mit kaputtem Anlasser nur zwei von acht Markierungsbaken umgeworfen.

4. Bei dem in meinem Lebenslauf vermerkten Eintrag „Erfahrungen als Sternekoch im europäischen Ausland“ handelt es sich in Wahrheit um die Herstellung von sechs verbrannten Grillwürstchen auf einem Campingplatz in Süddänemark.

5. Ich bin nicht „erfolgreicher Pionier der deutschen Hipster- und Start-up-Szene“, sondern habe mir lediglich vor 2003 einen Bart wachsen lassen.

6. Ich habe nicht 2002 den Henri-Nannen-Preis für eine Reportage über die letzten Schwammtaucher Griechenlands gewonnen, sondern lediglich 2014 beim Wettbewerb „Schlagzeile des Jahres“ des Vereins Deutsche Sprache mit der Zeile „IBAN, die Schreckliche“ den ganz und gar undotierten zweiten Platz belegt.

7. Für mein ehrenamtliches Engagement im Bereich der Kinder- und Jugendförderung habe ich 2019 nicht das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland erhalten, sondern lediglich ein anerkennendes Nicken meiner Frau für die Installation eines Basketballkorbs in unserer Einfahrt.

8. Ich bin nicht „Kunstmäzen und Sammler zeitgenössischer Malerei“, sondern habe im Arbeitszimmer lediglich neun selbst hergestellte Bilder meiner Kinder aufgehängt.

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9. Bei meinen angeblichen Erfahrungen als „Expeditionsleiter einer Amazonaserkundung von Arumanduba bis Botafogo“ handelt es sich lediglich um eine 400-Meter-Fahrt in einem leckgeschlagenen Schlauchboot über das norddeutsche Flüsschen Öertze bei Wolthausen.

10. Ich bin nicht „Historiker, Archivar und Sammler kulturhistorischer Artefakte“, sondern kann einfach nur Sachen schlecht wegschmeißen.

Ich hoffe, ich kann trotzdem noch Bundeskanzler werden.

In seiner Kolumne „Über Leben in Deutschland“ wirft Imre Grimm einen satirischen Blick auf den deutschen Alltag – dazu gehören persönliche Erlebnisse, aber auch Kuriositäten aus Politik, Gesellschaft und Kultur.

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