Kultur unter Corona: Was bleibt vom Streaming?
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Ein Ensemblemitglied spielt in der Jahrhunderthalle Bochum während der Fotoprobe im Musiktheaterstück „Evolution“ unter der Regie von Kornél Mundruczó.
© Quelle: Caroline Seidel/dpa
Das heimische Sofa konnte in den vergangenen Monaten an vielen Orten dieser Welt stehen. Heute in München beim Dokumentarfilmfestival, morgen in Dortmund in einer Ausstellung über den Graphic-Novel-Pionier Will Eisner, übermorgen in Berlin beim Theatertreffen. Und nachts fand sich das Sofa auf der Tanzfläche in Beirut, Kopenhagen oder Manchester wieder, die Clubparty konnte beginnen.
Streaming hat all das seit Beginn der Corona-Pandemie möglich gemacht. Als wegen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 keine Besucher mehr in die Theater und Literaturhäuser, in die Konzertsäle und Museen kommen konnten, wurde die Kultur digital. Nun, da viele Häuser wieder öffnen, stellen sich Fragen nach der Zukunft: Was wird bleiben von der schönen neuen Streamingwelt? Setzen Kunst und Kultur in Zeiten niedriger Inzidenzen komplett auf den Präsenzbesuch? Oder sind Hybridveranstaltungen, Mischungen aus analog und digital, denkbar?
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Joachim Meyerhoff im Stück „Das Leben des Vernon Subutex“ in der Schaubühne in Berlin live erleben: ein bewegendes Gefühl.
© Quelle: Thomas Aurin
Natürlich ist ein Theaterbesuch in der Realität etwas anderes. Was für ein bewegendes Gefühl es war, nach so langer Zeit wieder gemeinsam mit anderen Menschen in der Schaubühne in Berlin zu sitzen und dem intensiven Spiel von Joachim Meyerhoff und seinen Kolleginnen und Kollegen im Stück „Das Leben des Vernon Subutex“ zuzuschauen. Welch eine Gefühlsexplosion, gemeinsam mit vielen anderen in einem Raum zu sitzen, zu lachen, zu applaudieren.
Trotz der Besonderheiten von realen Liveerlebnissen möchte man das gestreamte Kulturerlebnis aber nicht mehr missen – allein schon, weil Entfernungen so leicht überbrückbar sind. Aber geht das so einfach? Sehr deutlich ist in den vergangenen Monaten geworden, dass sich einige Bereiche aus Kunst und Kultur besser fürs Streaming eignen als andere. Den Sound einer professionellen Anlage bei einem Livepopkonzert kann der Klang aus dem heimischen Laptop – selbst in Verbindung mit einer guten Soundanlage – nicht ersetzen.
Bei Lesungen sollte der Sound zwar auch funktionieren, aber seine Qualität ist nicht so wichtig wie die Qualität der Texte. Und auch das gemeinsame Erleben der Zuschauer spielt keine so große Rolle wie bei Popkonzerten. Allerdings gilt auch beim gesprochenen Wort: „Der Bildschirm ersetzt niemals die Anwesenheit einer Autorin im Saal, zwischen Livepublikum und Autor entwickelt sich im Idealfall mitunter eine magische Atmosphäre“, sagt Christina Knecht, Sprecherin des Hanser-Verlags. Lesungen und Buchpremieren im Livestream hätten sich unbedingt bewährt. „So konnten wir in Kooperation mit unterschiedlichen Veranstaltungspartnern wie Literaturhäusern, Buchhandlungen und Festivals unsere Bücher, unsere Autorinnen und Autoren zumindest am Bildschirm präsent halten“, sagt Knecht. Ganz grundsätzlich aber sei das Digitale kein Ersatz fürs Analoge.
Trotzdem sind Lesungen geradezu prädestiniert für eine digitale Präsentation. In Kunstausstellungen hingegen gestaltet sich das schwieriger. Die Möglichkeit, einen umfassenden Blick auf ein Kunstwerk in einem Museum zu werfen mitsamt der Möglichkeit, es aus allen möglichen Perspektiven – von weit hinten, von sehr nah, von links, von rechts, aus der Hocke – anzusehen, ist viel entscheidender als bei Lesungen oder gestreamten Dokumentarfilmen.
Auch im Theater ändert sich die Blickweise, wenn man als Zuschauer oder Zuschauerin im Saal anwesend ist. „Eigentlich ist das Theater das demokratischste aller Medien, weil das Publikum selbst bestimmt, wohin es den Blick steuert, auf was es sich konzentriert“, sagt der Intendant des Schauspielhauses Bochum, Johan Simons.
Die Livestreams während der vergangenen Monate, die laut Simons die „richtige Antwort auf den coronabedingten Theaterlockdown“ waren, empfindet er trotz dieser analogen Sehgewohnheiten als gute und wichtige Alternative. In den per Stream übertragenen Inszenierungen aus Bochum „waren durch bis zu acht Kameras die Perspektiven zwar vorgegeben, dafür aber auch Seherlebnisse möglich, die es sonst nicht gibt“. Livestreams und Hybridangebote sind im Schauspielhaus auch in Zukunft geplant. „Wir haben erlebt, dass wir durch die Digitalvorstellungen ein Publikum erreichen, das normalerweise nicht immer die Möglichkeit hat, Vorstellungen in Bochum zu besuchen. Das ist wichtig an einem internationalen Haus wie dem unseren“, sagt Simons.
Anders als bei lediglich abgefilmten Kulturveranstaltungen wie dem Hauskonzert oder der Podiumsdiskussion unterscheidet sich im Theater eine Präsenzaufführung von einer filmischen erheblich. Beim Theaterfilm ist in der Regel eine Modifikation der jeweiligen Vorstellung notwendig. „Fast jede Inszenierung, die wir als Livestream gezeigt haben, wurde zuvor zusammen mit dem Filmteam geprobt und angepasst, um ein richtig gutes Ergebnis zu erzielen“, sagt Simons, der seit 2018 das Schauspielhaus Bochum leitet. „Dabei war mir immens wichtig, dass die Streamingsituation für das Publikum erkennbar ist: Je nach Stück waren die Kameras deutlich sichtbar, fast ein Teil des Bühnenbildes.“
Auch im Frankfurter Kunstmuseum Städel versteht man das Digitalangebot zu einer Ausstellung nicht als Eins-zu-eins-Abbild der Realität. „Unsere digitalen Aktivitäten und Initiativen verfolgen nicht den Zweck, ein virtuelles Museum im digitalen Raum ‚nachzubauen‘“, sagt Chantal Eschenfelder, Leiterin Bildung und Vermittlung und Digitale Sammlung des Museums. „Die digitalen Angebote des Städel Museums sind als eigenständiges, kostenfreies Programm zu verstehen, welches das analoge Programm im Museum komplementär ergänzt – mit Digitorials, einem Onlinekurs zur Kunst der Moderne, einer digitalen Sammlung, Podcasts, Filmen und vielem mehr.“ Dies sei während der Lockdownzeiten sehr gut angenommen worden. „Die Nutzerzahlen haben sich je nach Angebot verdoppelt, teilweise sogar verzehnfacht.“
Das Museum habe allerdings nicht erst jetzt die Notwendigkeit der Digitalisierung erkannt. „Es hat sich bewährt, dass wir bereits vor fünf Jahren mit unserer digitalen Erweiterung an den Start gegangen sind: Die digitale Strategie und damit das Angebot zahlreicher digitaler Vermittlungsformate für unsere Besucherinnen und Besucher waren bereits erprobt“, sagt Eschenfelder. Diese Angebote würden stetig weiterentwickelt.
Hybridangebote werden im Städel eine Zukunft haben – weil sie unterschiedliche Bedürfnisse abdecken können. „Wichtig dabei ist, dass die Vorteile des jeweiligen Mediums gezielt eingesetzt werden: das unmittelbare Erlebnis des Originals gelingt beim analogen Besuch, die umfangreiche Vermittlung von Kontextinformationen eher digital.“
Die „erlebbare Faszination des Originals“, so Eschenfelder, fehle aber bei der digitalen Kunstvermittlung im Museum. „Insofern ist auch das Erlebnis eines Ausstellungsbesuchs selbst nicht digital zu vermitteln. Viele Institutionen laufen Gefahr, dieses Manko mit technischer Beeindruckung kompensieren zu wollen“, sagt sie. „Immer wieder führen Versuche einer reinen Übertragung des realen in den virtuellen Museumsraum zu Sackgassen, da sie das Interesse ihrer Nutzer eigentlich nicht bedienen können.“ Das Städel Museum nutze den digitalen Raum in Ergänzung zur physischen Sammlungspräsentation als Ort der Rekontextualisierung.
Auch der Hanser-Verlag hat gute Erfahrungen mit dem Streaming gesammelt. „Wir haben mit Instagram-Bookrelease-Partys beim Erscheinen von Mithu Sanyals Roman ‚Identitti‘ und Igor Levits ‚Hauskonzert‘ sehr gute – und hochvergnügliche – Erfahrungen gemacht“, sagt Sprecherin Christina Knecht. Es seien jeweils knapp 1000 Zuschauer aus aller Welt dabei gewesen. „Das bietet nur das Digitale. Wenn diese lockere Form zum Buch passt und die Autorin oder der Autor über eine große Instagram- oder Twitter-Followerschaft verfügt, ist so eine rein digitale Buchpräsentation keine Konkurrenz, sondern eine sinnvolle Ergänzung zur klassischen analogen Buchvorstellung.“
Ein Höhepunkt der vergangenen Monate war für den Münchner Verlag die digitale Lesereise von T. C. Boyle. „Alle hatte viel Spaß mit dem neuen Format, mitunter entstand sogar eine ganz eigene Intimität“, erzählt Knecht. Aber die Sehnsucht nach dem Realen blieb auch dort bestehen. „Zum Abschluss jedes Abends hat Boyle betont, wie sehr er sich auf den nächsten Deutschland-Besuch freut. Auch für ihn ist das Digitale kein gleichwertiger Ersatz zum Auftritt vor Publikum.“
Am Ende sind wir doch hungrig nach dem Realen. Oder um es mit den Worten von Johan Simons zu sagen: „Ich kann gar nicht sagen, wie unendlich glücklich ich bin, dass wir nun wieder vor Publikum in unserem Haus spielen dürfen.“