„Judy“: Der Vogel flattert noch
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Die Show muss weitergehen – auch wenn sie nicht mehr kann: Judy Garland (Renée Zellweger) bei einem Arzttermin.
© Quelle: Entertainment One
Judy Garlands Geburtstagsparty ist mal eben um zwei Monate vorverlegt worden. Zum eigentlichen Termin würde die Feier nicht in ihren Drehplan passen. Judy wird gerade 16, spult aber Filme im Akkord ab: 13 hat sie ihren Fans und vor allem ihrem Studio schon beschert.
Letztlich ist der Geburtstagstermin aber auch egal: Es ist ja sowieso alles nur Fake bei dieser Party. Die Freunde, die beim Pool herumstehen, sind gar keine, sondern Statisten. Das Wasser im vermeintlich so verlockenden Becken ist eiskalt. Und sogar in die riesige Geburtstagstorte kann niemand hineinbeißen, sie ist aus Pappmaschee.
Judy ist auf Pillendiät
Judy dürfte aber sowieso nicht hineinbeißen. Sie ist auf strenger Pillendiät, so wie sie auch Pillen nimmt, um ihre überlangen Arbeitstage durchzustehen, und andere Pillen, um danach nachts schlafen zu können. Eine Art Gouvernante, sozusagen die böse Version von Mary Poppins, schiebt ihr die Pillen zu.
Gefeiert wird der 16. trotzdem: So lassen sich schon jetzt die Bilder abdrehen, die man in zwei Monaten braucht. Dann kann der Welt eine vermeintlich glückliche Judy präsentiert werden.
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Garlands Teenagerleben war eines, das frösteln macht – jedenfalls wenn man dem Biopic „Judy“ glaubt. Es spricht einiges dafür, dass es wirklich so war. Schon im Alter von zwei Jahren stand die kleine Judy das erste Mal vor der Kamera.
In einem der wenigen Akte jugendlicher Rebellion wird Judy (als junge Frau gespielt von Darci Shaw) trotzdem in den Pool springen. Schon wenig später wird sie ein weißer alter Mann in den Kulissen ihres nächsten Films besuchen – es soll ihr berühmtester werden: der Musicalfilm „Der Zauberer von Oz“ (1939).
Der Studioboss hat die Macht über Judy
Der Mann wird sich einen Moment allein mit ihr ausbedingen und ihr mit diabolisch ruhiger Stimme und unbarmherziger Härte klarmachen, dass er sie jederzeit wieder zurück in die Provinz und in die Vergessenheit schicken kann. Der Mann hat Macht über ihr Leben. Er ist der Studiochef von Metro-Goldwyn-Mayer (MGM), Louis B. Mayer (Richard Cordery).
Beinahe würde man erwarten, dass der Hollywoodmogul auch anderweitig übergriffig würde. Aber auf solche Andeutungen verzichtet Regisseur Rupert Goold in seinem Werk, das lose auf dem Theaterstück „End of the Rainbow“ von Peter Quilter beruht. Auch so werden die Konturen des diktatorischen Studiosystems kenntlich, das seine Stars nach den Ideen von Marketingleuten kreiert.
Greta Garbo, Jean Harlow, Marilyn Monroe: Sie alle waren von Studios gemachte Leinwandgöttinnen. Welche Haarfarbe sie tragen, was sie essen durften und manchmal sogar, wen sie heiraten durften: Darüber entschieden die Studios. Das galt genauso für Männer: „Alle wollen Cary Grant sein. Ich auch“, soll Cary Grant mal gesagt haben.
Die letzten Jahre Judy Garlands
Es ist wohl kein Zufall, dass gut zwei Jahre nach Beginn der #MeToo-Debatte der düstere Film „Judy“ in unseren Kinos startet, der vom kurzen Leben des Kinderstars erzählt. Wer „Judy“ sieht, versteht ein wenig besser, wieso es so endlos lange dauerte, bis die sexuellen Ausbeutungen eines Harvey Weinstein aufflogen – und welchen Mut es Frauen immer noch kostet, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Den Schwerpunkt legt der Regisseur auf die letzten Jahre Garlands. Da ist sie Mitte vierzig, ausgebrannt und doch gewillt, den Kampf mit bitterem Sarkasmus noch mal aufzunehmen. Sie liegt im Scheidungskrieg mit ihrem vierten Mann, braucht dringend Geld, und sie will ihren zwei Kindern eine gute Mutter sein.
1968 bekommt sie das Angebot, im Londoner Club von Bernard Delfont (Michael Gambon) aufzutreten. Der Haken dabei: Sie muss Sohn und Tochter in Los Angeles beim Vater, dem Showproduzenten Sidney Luft (Rufus Sewell), zurücklassen.
Judy Garland, zu Tode erschöpft
Renée Zellweger spielt die erwachsene Garland, und es hätte kaum eine bessere Wahl geben können. Der ehemalige Hollywoodliebling Zellweger, der zwischendurch in der Versenkung verschwand und nach dessen Rückkehr vornehmlich über Schönheitsoperationen spekuliert wurde, kennt den Weg über den Regenbogen und zurück.
Wie ein zerbrechlicher Vogel hockt Zellwegers Judy in ihrem Londoner Hotelzimmer, immer noch süchtig nach Tabletten und immer noch zu Tode erschöpft, so wie ihr ganzes Leben schon. Doch wenn sie es auf die Bühne geschafft hat, dann breitet sie die zarten Flügel aus und flattert. Es gibt noch eine andere Sucht in Judy Garlands Leben: Sie will vom Publikum geliebt werden.
Zellweger singt selbst und mit erstaunlicher Souveränität. Die Musik nimmt aber nicht den Stellenwert ein wie in den beiden Biopics „Rocketman“ über Elton John und „Bohemian Rhapsody“ über Freddie Mercury, die im vorigen Jahr für Furore sorgten. Aber das macht nichts: Die Traurigkeit in ihrer Stimme ist abgrundtief, wenn sie noch einmal „Over the Rainbow“ anstimmt und die Gefühle sie überwältigen.
Am 22. Juni 1969, zwölf Tage nach ihrem 47. Geburtstag, starb Judy Garland an einer Tablettenüberdosis. Vermutlich war es kein Selbstmord, sondern nur ein Versehen.
„Judy“, Regie: Rupert Goold, mit Renée Zellweger, Darci Shaw, Rufus Sewell, 119 Minuten, FSK 0