Jimmy Hartwig: Mit dem Nationaltrikot möchte ich beerdigt werden

In seinem Trikot will er beerdigt werden: Jimmy Hartwig in der Doku „Schwarze Adler“.

In seinem Trikot will er beerdigt werden: Jimmy Hartwig in der Doku „Schwarze Adler“.

Schon als Junge flüchtete sich Jimmy Hartwig gern zum Fußball: Draußen entkam er den Schlägen seines Großvaters, bei dem er aufwuchs. Hartwig ist der 1954 geborene uneheliche Sohn eines amerikanischen GI und einer deutschen Mutter. Hartwig lernte Maschinenbauschlosser – und begann seine Fußballkarriere 1972 bei Kickers Offenbach. Für 1860 München schoss er 1977 das entscheidende Tor beim Aufstieg in die Bundesliga. Mit dem HSV wurde er dreimal Meister. Zweimal durfte Hartwig sich das Trikot der Nationalmannschaft überstreifen. Nach einer Knieverletzung war Schluss. Er arbeitete als Trainer und entdeckte nach zwei Krebserkrankungen etwas Neues: das Theater, wo er etwa Büchners „Woyzeck“ spielte.

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Später ließ er sich bei Realityshows blicken („Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“) und schrieb gleich zwei Autobiografien. Heute engagiert sich Hartwig beim DFB für Vielfalt und Respekt. In der Doku „Schwarze Adler“ (ab 15. April bei Amazon Prime, am 18. Juni im ZDF) erzählt er neben Erwin Kostedde, Steffi Jones, Cacau und anderen von seinen Erfahrungen als Fußballer mit dunkler Hautfarbe.

Herr Hartwig, was fühlen Sie, wenn vor einem Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft die Hymne erklingt?

Ich stehe auf, lege die rechte Hand auf meine Brust und singe die Hymne laut mit.

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Wirklich?

Ja, auch wenn mich im Stadion schon mancher Nachbar auf der Tribüne komisch angeguckt hat. Die deutsche Nationalmannschaft repräsentiert aber nun mal mein Land, mein Deutschland. Zugutekommt mir dabei übrigens auch, dass ich schon seit Jahren Gesangsunterricht nehme. Ich schmettere dieses Lied mit aller Inbrunst.

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Es hat lange gedauert, bis Sie für Deutschland auflaufen durften. Ihrer Ansicht nach lag das daran, dass Ihre Hautfarbe als Kind einer deutschen Mutter und eines schwarzen US-Soldaten dunkler war als die der anderen. Verspüren Sie im Rückblick Bitterkeit?

Die Leute, die damals beim DFB waren und mir das angetan haben, die gibt es dort schon lange nicht mehr. In den Achtzigerjahren war ich einer der besten defensiven Mittelfeldspieler Europas – aber für manchen DFB-Verantwortlichen war ich trotzdem einfach nur Luft. Der Aufbruch in eine neue Ära hat dann aber schon deutlich vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien begonnen. Ohne all diese Integrationskinder, wie sie da auf dem Platz standen, wären wir nie Weltmeister geworden. Darüber sollte sich jeder klar sein.

Muss man heute noch betonen, wie bunt eine Nationalmannschaft ist?

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Die Holländer, Franzosen, Belgier, Engländer haben ihre Mannschaften schon viel früher für alle geöffnet. Nur wir Deutschen haben so lange gebraucht. Gerade mit Blick auf unsere Geschichte im 20. Jahrhundert hätten wir damit schon viel eher anfangen müssen.

Manche Spieler mit Migrationsgeschichte singen die Nationalhymne nicht mit, weil sie sich eben nicht zugehörig fühlen zu diesem Land. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, kann ich. Jeder hat seine eigene Geschichte. Aber es gibt auch weiße Spieler, die nicht mitsingen. Das muss gar nicht unbedingt mit der Hautfarbe zu tun haben. Manch einer, der da steht, ist mit seinen Gedanken vielleicht längst schon beim Spiel. Es hilft ja auch nichts, wie ein Zeisel zu singen, und hinterher triffst du den Ball nicht. Aber, klar, es wäre schon schön, wenn alle mitsingen könnten und würden.

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Sie haben noch immer ein Nationaltrikot zu Hause im Schrank liegen: Ist das gute Stück mehr als nur ein Souvenir?

Natürlich, und das Schöne ist: Es passt immer noch, ist nur an den Ärmeln ein bisschen kurz. Das Trikot ist für mich ein Heiligtum. Wer das falsch anfasst, hat sein Leben verwirkt. Mit diesem Trikot möchte ich beerdigt werden.

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Im Ernst?

Das ist mein totaler Ernst. Das kann ich ohne Wenn und Aber sagen. Mein Testament habe ich schon gemacht nach meinen beiden Krebserkrankungen. Mit Lederhose, Haferlschuhen und dem Trikot mit schwarzem Adler drauf möchte ich zu Grabe getragen werden. Vielleicht habe ich in der Hand auch noch die Goldmedaille, die ich nach meinem ersten Länderspiel gekriegt habe. Und wenn mich irgendwer in 3000 Jahren wieder ausbuddelt, wird er sich verwundert fragen, wer da wohl in der Erde liegt.

Was hätte wohl Ihr deutscher Großvater gesagt, wenn er noch erlebt hätte, dass Sie für die deutsche Nationalmannschaft spielen?

Ehrliche Antwort? Der hätte sich erhängt. Hundertprozentig. Oder er hätte einen Brief an den DFB geschrieben mit der Frage: Seid ihr verrückt, den Neger Fußball spielen zu lassen? Genau mit dieser Formulierung. Mein Großvater war ein wirklich schlimmer Nazi. Das war auch einer der Gründe für mich, Fußball zu spielen: Ich wollte diesem alten Mann zeigen, was in mir steckt. Bis jetzt habe ich immer wieder all jene Lügen gestraft, die mich unterschätzt haben oder die mich schon tot sehen wollten. Ich habe alle zum Schweigen gebracht. Da bin ich stolz drauf.

Haben Sie Ihren leiblichen Vater überhaupt kennengelernt?

Einmal, da war ich vier Jahre alt, viel zu klein. Damals hat er mir einen Fotoapparat geschenkt. Was hätte ich mit dem Ding anfangen sollen? Meine Mutter hat die Kamera verkauft, von dem Geld haben wir ein paar Wochen leben können. Aber in den vergangenen Jahren hat meine Frau recherchiert, und sie hat meinen Vater tatsächlich gefunden.

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Was wissen Sie jetzt über ihn?

Wir waren leider zu spät – drei Monate zuvor war er in Las Vegas im Alter von 91 Jahren gestorben. Jetzt weiß ich immerhin, dass ich noch zehn Geschwister in den USA habe. Fünf davon sind allerdings schon tot. In Deutschland hatte ich auch noch zwei Halbgeschwister, die beide später ausgewandert sind.

Die entscheidende Bezugsperson für Sie war allein Ihre Mutter?

Für mich war sie Mutter Teresa, die beste Frau der Welt. Sie hat aufs Abendessen verzichtet, damit ich satt werde. Und sie hat mir meinen Großvater vom Leib gehalten. Sie hat sich vor mich gestellt, wenn er mich verprügeln wollte. Aber wenn sie arbeiten war, hatte er freie Hand, dann hagelte es Schläge. Der liebe Gott kann froh sein, dass er meine Mutter da oben im Himmel hat.

Muss man mit dunkler Hautfarbe noch ein bisschen besser sein als die anderen?

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Ja, man muss immer eine Schippe drauflegen. Irgendwann will man sich auch selbst beweisen, dass man besser ist. Deshalb habe ich mich auch beim HSV durchsetzen können – neue Spieler hatten es bei dem Verein damals wirklich schwer. Und letztlich habe ich es dann ja auch in die Nationalmannschaft geschafft, als zweiter farbiger Spieler nach Erwin Kostedde. Jetzt bin ich beim DFB als Integrationsbotschafter unterwegs und lege mich zur Not auch mit Rassisten an.

Sie sind auch einer der Protagonisten in dem Amazon-Dokumentarfilm „Schwarze Adler“, in der farbige Nationalspieler und Nationalspielerinnen von ihren rassistischen Erlebnissen erzählen. Vorab taucht im Film ein Warnhinweis auf: Man müsse sich darauf einstellen, dass der Film „traumatisierende Inhalte“ habe. Ist der Hinweis notwendig?

Ich weiß von einigen Leuten, die den Film schon gesehen und die geweint haben. Diese Doku gräbt ganz tief. Hinterher weiß man, wie es in einem Menschen aussieht, dessen Hautfarbe ein bisschen dunkler ist als die der anderen.

Der in Bad Godesberg geborene Anthony Baffoe, der in den Achtzigern für Köln und Düsseldorf gespielt hat und später auch für Ghana, sagt in dem Dokumentarfilm: „Ich wurde geliebt als Fußballer und war verhasst als Mensch.“ Können Sie das unterschreiben?

Sofort. Jeder hat dem Fußballer Jimmy auf die Schultern geklopft, wenn er gut gespielt hat. Aber wenn es dem Menschen Jimmy schlecht ging, hat es nicht so viele gekümmert. Dass der Fußballer und der Mensch nicht zu trennen sind, haben längst nicht alle begriffen.

Haben Sie bei den eigenen Teamkollegen Rassismus gespürt?

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Beim HSV waren wir eine Gemeinschaft – 90 Minuten auf dem Platz und beim Training. Darüber hinaus nicht. Wenn mich da ein Spieler der anderen Mannschaft beleidigt hat, kam keiner und hat mir tröstend auf die Schulter geklopft. Deshalb ist es heute immer noch so wichtig, dass Spieler aufstehen und Rassismus beim Namen nennen. Dafür kämpfe ich wie ein Berserker.

War Rassismus ein Thema, über das man in der Kabine sprach?

Nein. Da sprach man darüber, ob man noch einen trinken geht oder wer eine neue Freundin oder ein neues Auto hat. Keine Ahnung, ob sich das heute geändert hat. Ist ja schon ein Weilchen her. Kann ich mir aber kaum vorstellen.

Wieso identifizieren Sie sich bis heute so stark mit dem Fußball?

Fußball war trotz allem ein Schutzraum: Da lief ich als Gladiator auf den Platz. Das gab Selbstvertrauen. Aber wenn man schlecht gespielt hatte, dann kamen die Schmährufe. Oder die Fans der gegnerischen Mannschaft hatten einen auf dem Kieker: Ich erinnere mich, wie Tausende beleidigend über mich gesungen haben. Mein Trainer Ernst Happel wusste keinen Rat. Da habe ich mich vor die Kurve gestellt und den Gesang der sogenannten Fans dirigiert – den größten Idiotenchor der Welt.

War Ihre Beziehung zu den Fans angespannt?

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Vor echten Fans habe ich immer Respekt gehabt. Die geben viel Geld für ihre Karten aus. Respekt habe ich aber nicht vor denen, die nur ihren Frust loswerden wollen. Das sind diejenigen, die im eigenen Leben nichts auf die Reihe kriegen. Diese Typen leben in einem Dunstkreis des Hasses.

Wie sollte man ihnen begegnen?

Wir müssen die schweigende Mehrheit mobilisieren. Nur diese allein kann Schutz gewähren. Die Mehrheit muss die anderen in die Defensive und aus dem Stadion raussingen. Ein paar Pfiffe allein bringen nichts. Und die Mannschaften unten auf dem Platz müssen aufhören zu spielen, wenn es zu Beleidigungen kommt. Spielabbruch, fertig. Diese Art von Solidarität weist die Idioten in die Schranken.

Wieso ist Rassismus auf der Fußballtribüne so stark verankert, wenn die Mannschaft unten auf dem Platz so bunt ist?

Aufgehetzt werden die Leute bereits anderswo, zum Beispiel im Privatfernsehen. Wir müssen viel früher aufklären über Rassismus, schon in den Schulen. Da sollte auch der Dokumentarfilm „Schwarze Adler“ gezeigt werden. Der Weg ist noch weit, und wir kriechen wie eine Schnecke voran. In ostdeutschen Städten wie Cottbus oder Magdeburg fühle ich mich nicht unbedingt willkommen. Bis heute traue ich mich mit dunkler Hautfarbe nicht überall hin. Und da geht es ja nicht nur mir so.

Wem noch?

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Es kann doch nicht sein, dass jüdische Mitbürger in diesem Land verprügelt werden, weil sie eine Kippa auf dem Kopf tragen. Ja, wo leben wir denn? Und so viele drehen sich um und gehen einfach weiter, wenn das passiert. Diese Weggucker sind beinahe so schlimm wie die Rassisten.

Es gab da mal das sogenannte Sommermärchen 2006: Haben Sie damals gehofft, dass der Rassismus in der Sommersonne beim Public Viewing zusammenschmelzen könnte?

Die ganze Welt war damals in Deutschland zu Gast. Da spielten Nationen doch gar keine Rolle. Wir haben zusammen gejubelt und zusammen gefeiert. Das ist verdammt lange her. Ich mag dieses Land, und ich habe mit Stolz den Adler auf der Brust getragen. Aber politisch und sportlich hat sich manches seitdem wieder verengt. Dabei ist Deutschland doch längst multikulturell und die Welt global – vergessen wir jetzt mal Corona. Es gibt Leute, die schwingen erst das N-Wort, und dann fahren sie nach Sri Lanka an den Strand, um braun zu werden.

Wenn Sie heute einen Strich unter Ihre fußballerische Laufbahn ziehen: Was bleibt?

Es überwiegen ganz klar die positiven Erinnerungen. Ich habe tolle Menschen kennengelernt. Ich habe erreicht, was ich wollte: Fußballprofi werden. In die Bundesliga wollte ich schon, als ich acht Jahre alt war. Und in die Nationalmannschaft wollte ich, seit ich als Zwölfjähriger im Fernsehen das WM-Finale 1966 im Wembley-Stadion gesehen habe.

Treten Sie heute noch hin und wieder gegen einen Fußball?

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Ich habe einen Herzschrittmacher und muss ein bisschen aufpassen. Inzwischen begnüge ich mich mit Golf. Na ja, vielleicht zeige ich den Jungs auf der Wiese manchmal noch, wie der Ball gestoppt wird. Ansonsten stehe ich lieber rum und mache kluge Sprüche.

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