Heinz-Rudolf Kunze zu Hanau: Gesellschaft ist dabei auseinanderzubrechen
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Heinz Rudolf Kunze wird in seinen Songs gerne politisch.
© Quelle: Martin Huch
Herr Kunze, in Ihrem neuen Lied “Der Prediger” singen Sie: “Ihr hört ja nicht zu, ihr hört ja nicht hin, begreift gar nicht, was ich euch sag, es geht um die Zukunft, es geht hier um alles, es geht um den morgigen Tag.” Hat Sie Greta Thunberg zu dem Lied inspiriert?
Ja, unter anderem. Ich habe das Gefühl, dass zurzeit viele Prediger durch die Gegend laufen – so wie früher die Zeugen Jehovas mit ihrem “Wachtturm”. Nur, die neuen Prediger sind krakeeliger, aufdringlicher. Überall brüllt irgendjemand: “Ich weiß, wie es geht. Ich kenne die Wahrheit. Hört mir gefälligst zu!” Es gibt zurzeit viele hysterische kleine und große Sektenführer, die nicht gewillt sind, Argumente mit anderen auszutauschen. Sie kennen nur ihre eigene Wahrheit und wollen sie anderen Menschen reinwürgen. Wir leben in einer Art digitalem Mittelalter. Das Sektenwesen wird durch die moderne Elektronik hochgepeitscht.
Sie klingen, als seien Sie kein Greta-Fan ...
Ich bin Greta-Zuhörer, und ich mache mir Gedanken darüber, wie man diese verständliche jugendliche Wut in Taten umsetzen kann, mit denen wir alle leben können. Ich finde wichtig, was sie anregt, wenn es nicht in Hysterie ausartet. Ich mache mir Sorgen um dieses kleine Mädchen, weil ich mir vorstellen kann, dass man an so etwas auch kaputtgehen kann. Greta-Fan geht mir zu weit. Ich bin 63 Jahre alt, da ist es schwierig, Fan einer 17-Jährigen zu sein. Ich kann nur Fan von Leuten sein, die älter sind als ich.
Dass sich etwas ändern muss, fordern Sie selbst in „Die Zeit ist reif“. Mit dem Song kritisieren Sie die Gleichgültigen, die Tatenlosen, die Sprachlosen.
Das Lied handelt von Leuten, die bislang zu lange geschwiegen haben, die sich immer nur das Getröte und Geplärre von den politischen Rändern anhören, die ohne etwas dagegen zu sagen kopfschüttelnd zur Tagesordnung übergehen.
Sie scheinen sehr verärgert zu sein ...
Ich war schon auf meiner ersten Platte “Reine Nervensache” sehr wütend.
Ist Gleichgültigkeit das größte Problem?
Ja. Das ist ja auch das, was meine Freunde mir erzählen, die im Gegensatz zu mir wirklich Lehrer geworden sind. Das schlimmste Problem an den Schulen ist heute ja nicht eine Art von Widerstand, sondern die Teilnahmslosigkeit. Du kannst den Schülern alles vorsetzen, die glauben alles, die kommen gar nicht auf die Idee, dass ein Text interessengesteuert sein könnte. Hinterfragen. Das Wort sagt ihnen nichts.
Aber die Fridays-for-Future-Bewegung – diese jungen Leuten müssten Ihnen doch eigentlich gefallen.
Ja. Auf der einen Seite gibt es zurzeit viele junge Leute, die für ihr Anliegen brennen. Nur, auf der anderen Seite habe ich die Angst, dass es sich um eine kurze, vergängliche Aufregungsmode handelt. Wir leben in Zeiten, in denen wir mit Sensationen überschüttet werden. Die Menschen haben einen hohen Selbstschutzfaktor entwickelt. Wenn heute etwas Entscheidendes passiert, haben wir es morgen schon wieder vergessen. Es ist so, als würden die Beatles “Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band 2” herausbringen, und keiner merkt es so recht.
“Diese Gesellschaft muss wieder auf allen Ebenen Respekt lernen”
Begünstigt Gleichgültigkeit solche rassistisch motivierten Amokläufe wie am Mittwoch in Hanau?
Auf jeden Fall trägt Gleichgültigkeit zu einem gesamtgesellschaftlichen Klima der Teilnahmslosigkeit und der Nichtachtung des Einzelnen bei. Ich glaube, da dagegen zu halten, ist eine riesige Aufgabe vor allem für die nächste Generation. Ich weiß nicht, was wir, die über 60 sind, noch machen können. Diese Gesellschaft muss wieder auf allen Ebenen Respekt lernen: in der Familie, in der Schule, auf dem Fußballplatz, in der Fußgängerzone und vor allem im teuflischen Internet.
Hanau ist nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und dem Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale die dritte rechte Horrortat innerhalb der vergangenen neun Monate. Jetzt kommt es also darauf an, jetzt muss endlich eine Gegenreaktion passieren.
Ja, diese Gesellschaft ist gerade dabei auseinanderzubrechen. Wenn die Menschen, die bei Verstand sind, nichts dagegen tun, dann bekommen wir hier endgültig amerikanische Verhältnisse.
Wie sollen die ganz normalen Menschen, wie Sie die Mitte der Gesellschaft in ihrem gleichnamigen Lied nennen, reagieren?
Sie müssen lauter werden. Man könnte die andere Seite, die Rassisten und Demokratiefeinde, ganz schön zurückdrängen, wenn es mehr positive, konstruktive Geräusche aus der Mitte der Gesellschaft gäbe.
Wie werden Sie in Ihren Konzerten reagieren?
Das muss ich mir noch überlegen. Ich denke schon, dass mich das beeinflusst. Logisch.
In der Schule hat Heinz-Rudolf Kunze nichts über den Nationalsozialismus gelernt
Wie erklären Sie sich, dass gerade im Land des Holocaust immer mehr Menschen eine fremdenfeindliche Partei wie die AfD wählen?
Das möchte ich auch gern wissen. Einen Verdacht, den habe ich: Auf den Fernsehkanälen N24, Phoenix und ZDF Info läuft an einem Tag pro Woche Hitler-TV, wie ich es nenne – Hitlers Freundin, Hitlers Hunde, Hitlers Briefmarkensammlung, Hitlers Turnschuhe. Eine Stimme aus dem Off, meistens die von Synchronsprecher Christian Brückner, ordnet das zwar politisch korrekt ein. Hitler steht für Zweiter Weltkrieg, Rassismus, Auschwitz, Völkermord, das Böse. Aber der Mensch glaubt Bildern. Abgesehen von den Leichenbergen in den KZs werden vor allem Bilder von Aufmärschen und Typen in schicken Uniformen gezeigt. Mein Verdacht ist: Das klärt nicht auf, das macht Werbung!
Wie haben Sie über den Holocaust erfahren? In der Schule?
Ich habe 1975 Abi gemacht. So weit ich mich erinnere, sind wir noch nicht einmal bis zum Ersten Weltkrieg gekommen, so oft ist Geschichte ausgefallen. Mein Vater war in der Waffen-SS. Er hat mir und meinem zwölf Jahre jüngeren Bruder extrem viel über Krieg und Gefangenschaft erzählt. Er hatte nicht den Schweigekomplex anderer Väter, sondern ein großes Mitteilungsbedürfnis. Er hat uns mit seinen Erinnerungen, seinen Ängsten und Panikattacken überlastet. Er hat jede Nacht im Schlaf geschrien. Als er in Gefangenschaft kam, war er selbst erst 19 Jahre alt.
Der Bruder ist Geschichtsprofessor in Karlsruhe
Sind Sie deshalb ein politischer Singer-Songwriter geworden?
Ich würde schon sagen, dass meine Familiengeschichte eine wesentliche Rolle dabei spielte. Mein Bruder und ich haben wegen unseres Vaters alles über die Nazizeit gelesen, was wir zu fassen bekamen. Sich damit zu beschäftigen, wurde für uns zur Obsession. Mein Bruder wurde Geschichtsprofessor in Karlsruhe und ich ein Musiker, der sich über Deutschland viele Gedanken macht.
Indem Sie ihm zuhörten, haben Sie Ihrem Vater bestimmt sehr geholfen ...
Es hat ihm eine gewisse Erleichterung verschafft. Er hat mich geprägt – und ich ihn. Er war ein großer Rockfan. Stellen Sie sich vor: 1969, mein Vater betritt das Lehrerzimmer und fragt seine spießigen Kollegen an der Agnes-Miegel-Realschule Osnabrück “Kennen Sie schon das neue Hendrix-Album?”
Manche Kollegen gehen kaputt, saufen sich tot, fixen sich tot
Sie protestieren mit ihren Liedern schon so lange gegen Rassismus – und werden Ihre Protestsongs wahrscheinlich ewig singen müssen. Fühlen Sie sich manchmal wie ein Hofnarr, dem die Menschen nicht wirklich zuhören?
Genau so ist es. Daran gehen manche Kollegen kaputt, saufen sich tot, fixen sich tot. Nur wenn man ein sehr stabiles persönliches Umfeld hat, eine Familie, eine Frau, einen festen Wohnsitz, eine Balance, nur dann hält man das aus. Manchmal macht dich das sehr traurig, aber ich glaube, Künstler sind wie Kinder. Sie sind leicht zu beeindrucken. Wenn der nächste Beifall kommt, dann geht’s wieder.
Beifall reicht?
Ja. Beifall ist schon sehr tröstlich. Wenn am Ende des Konzertes alle aufstehen und dir das Gefühl geben, dass sie einen schönen Abend hatten, dass sie sich wohlgefühlt haben – mehr will ich ja gar nicht.
Mit Ihrem Lied “Mit welchem Recht” singen Sie gegen die an, die neue Mauern bauen wollen, die nicht wahrhaben wollen, dass wir alle auf demselben einen Planeten leben. Sie predigen nicht, sondern stellen nur eine einfache Frage: “Mit welchem Recht wollen wir Menschen verwehren, zu uns zu kommen, einfach um zu überleben?”
Im Grunde genommen entfalte ich mit dem Lied einfach nur eine Frage, die Norbert Blüm schon vor 20 Jahren in Talkshows gestellt hat. “Mit welchem Recht wollen Sie einem schwarzen Mann verbieten, dorthin zu gehen, wo seine Familie nicht verdurstet und verhungert?” Als Blüm die Frage in den Raum stellte, wurde es sehr still.
Heinz-Rudolf Kunze würde nicht bei der AfD singen: “Ich bin kein Held”
Sie singen Ihre Lieder für gewöhnlich vor Fans oder Gleichgesinnten. Müssten Sie “Mit welchem Recht” nicht auch vor Rechten singen, um richtig zu protestieren? Würden Sie sich zutrauen, einfach bei einer AfD-Veranstaltung aufzukreuzen?
Nein. Ich bin kein Held. Dazu bin ich viel zu feige. Das schaffe ich nicht. Ich weiß auch, dass ich in meinen Veranstaltungen solche Leute nicht erreiche. Die kommen da nicht hin. Die fühlen sich bei mir nicht wohl. In meine Konzerte kommen Leute, die einen gewissen Grundkonsens mitbringen. Da wird nur etwas verstärkt, was schon da ist. Das ist klar. Aber ich bin kein Kamikazeflieger. Ich war in Sport immer sehr schlecht. Ich versuche, in meiner Arbeit mutig zu sein.
Vor zwei Jahren beschwerten Sie sich in einem Interview über die Mutlosigkeit deutscher Popmusiker. Sie sagten: “Aber es ist für mich schon irritierend, dass ich bei fast allem, was auf Deutsch erscheint, nicht mehr weiß: Ist das jetzt noch Rock oder schon Schlager? Was ich mitkriege, erscheint mir schon sehr mutlos und uneckig.” Hat sich die Lage inzwischen verbessert?
Nein, aus meiner Sicht nicht. Ich muss aber auch gestehen, dass mein Interesse daran mäßig ist. Das, was ich bei Taxifahrten im Autoradio ab und zu mitkriege, das macht mich nicht gerade neugieriger, und außer bei AnnenMayKantereit horche ich nirgendwo auf. Ich würde aber auch nicht behaupten, dass ich alles mitbekomme.
Ich habe ein paar Anspieltipps für Sie: Mine, Prada Meinhoff, Drangsal, Bosse, Jetzt, Kettcar, Niels Frevert, Andreas Dorau, auch Buntspecht aus Österreich sind eine echte Empfehlung.
Kann ich den Zettel mitnehmen? Dann kann ich dem ja mal nachgehen.
Helene Fischer sollte Sie einladen, bei jedem ihrer Konzerte drei Protestsongs zu singen. Dort könnten Sie ein ganz anderes Publikum erreichen als sonst. Sie könnten die Schlagerfans ein bisschen stören.
Das wäre nicht von mir sehr mutig, sondern von Helene. Aber es ist kaum denkbar. Der künstlerische Spielraum von Helene ist ungefähr so groß wie der der englischen Königin. Ich weiß das ziemlich genau, weil mein Schlagzeuger von Anfang an bei ihr spielt. Wenn Helene bei einem ihrer Schlager auch nur ganz wenig vom Arrangement abweicht, erhält sie einen Shitstorm ohne Ende. “Das ist nicht mehr meine Helene!” Mich singen zu lassen, kann sie sich nicht leisten. Das würde ihr kommerziell das Genick brechen.
Helene Fischer hat Ihr “Dein ist mein ganzes Herz” aufgenommen. Im vorigen Jahr haben Sie das Lied im Duett mit Nicole gesungen. Für das neue Nicole-Album “50 ist das neue 25” haben Sie zudem sieben Songtexte geschrieben. Sind Sie ein heimlicher Schlagerfan – oder bloß Nicole-Fan?
Ich bin überhaupt kein Schlagerfan. Ich mag Nicole einfach als Mensch. Wir kennen uns seit 1982. Sie ist eine liebe, normale Frau mit vernünftigen Ansichten und Humor, überhaupt nicht verzärtelt, verkitscht oder verzickt. Wenn mich Nicole als Freundin bittet, für sie zu texten, dann mache ich das. Es ist keine Verbrüderung mit dem Schlager. Ich habe selbst in den letzten Jahren für jedes Album ein paar Songs aufgenommen, die mit gebremstem Schaum daherkommen, um überhaupt eine Chance zu haben, im sehr schlagerlastigen Radio gespielt zu werden. Sonst käme ich dort gar nicht mehr vor.
Wirklich?
Seitdem ich über 50 bin, werde ich von den normalen Wellen, wo Rockmusik läuft, aussortiert und finde nur noch auf NDR1 oder ähnlichen Sendern statt – nur aufgrund meines Alters.
Fühlen Sie sich deshalb “Völlig verzweifelt vor Glück”, wie ein Lied von Ihnen heißt? Worum geht es darin?
Das ist in der Tat ein rätselhaftes Lied. Ich weiß ja immer gar nicht, was ich schreibe, wenn ich es schreibe.
Sie texten unterbewusst?
Ich lasse mich treiben, und die Zeilen kommen einfach so, als würde ich Jazzsaxofon improvisieren. Ich schreibe das so runter. Danach versuche ich mir einen Reim darauf zu machen. “Völlig verzweifelt vor Glück” handelt wohl davon, dass sich ein Künstler unverstanden fühlt, von den flachen Leuten für die falschen Sachen Applaus bekommt, immer für “Dein ist mein ganzes Herz” und nicht für die wirklich guten Lieder.
Heinz Rudolf Kunze spielt auf seiner “Der Wahrheit die Ehre”-Tour unter anderem in Leipzig (17. April), Hannover (20. Mai), Hamburg (22. Mai), Rostock (23. Mai), Berlin (26. Oktober) und Dresden (27. Oktober).
Seit Heinz Rudolf Kunze 1970 im Alter von 13 Jahren in Münster The Who live erlebt hat, wollte er Musiker werden. “Jubel, laut, berühmt”, sagt er, “das hat mich beeindruckt, das wollte ich auch.” Die Zeit zwischen 1968 und 1980, seine Jugendzeit, bezeichnet er als die allerbesten Jahre der Rockmusik. “Eine explodierende Vielfalt”, schwärmt er. “Eine irrsinnigere und mutigere Musik hat es vorher nicht gegeben – und auch nicht danach.” Mit 15, 16 schrieb er erste eigene Lieder auf Englisch. Mit 17, 18 begann er, auf Deutsch zu texten.
Am 9. November 1980 gewann Kunze in Würzburg das Popnachwuchsfestival in der Kategorie “Folk, Lied, Song”. “Danach ging alles sehr schnell”, sagt er. Sein Debüt “Reine Nervensache” erschien 1981. Auf seinem neuen Studioalbum “Der Wahrheit die Ehre” protestiert er gewohnt sprachgewandt gegen dreiste Vereinfacher, Hetzer und Demokratiefeinde.
“Ich bin so müde wie ein letzter Rolling Stone”, singt der 63-Jährige. Kein Wunder, im vorigen Jahr ist er ausgiebig durch die Provinz getourt, hat für Nicole Lieder getextet, für das Buchprojekt “Bruce Springsteen – Like a Killer in the Sun” 100 Songs ins Deutsche übertragen und sein 28. Album aufgenommen. Wie schafft er das alles? “Ich begleite meine Frau zum Einkaufen, da sie kein Auto fährt. Das ist das Einzige, was ich im Haushalt machen muss. Den Rest des Tages habe ich Zeit. Dabei kommt viel raus, und ich fühle mich noch nicht einmal besonders fleißig.”