Schriftsteller stirbt im Alter von 93 Jahren

Denken in Bewegung – zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger gestorben.

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ist gestorben.

Ein flüchtiges Element sei er. So hat sich der Schriftsteller, Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger einmal selbst charakterisiert. Gern und oft war er auf der Flucht vor dem Deutschland der Nachkriegszeit, vor Borniertheit und Stillstand, vor Denkfaulheit, vor dem Zeitgeist. „Flüchtig“ als Beschreibung aber passt auch, weil Enzensberger einfach nicht greifbar war. Wer sich auf ihn und sein Denken, seine Analysen und Meinungen zubewegte, hat ihn häufig nicht fassen können. Nun ist Hans Magnus Enzensberger im Alter von 93 Jahren in München gestorben.

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Mehr als 65 Jahre lang hat Enzensberger, 1929 in Kaufbeuren geboren, dieses Land, seine Debatten und Kurswechsel mitgeprägt. Die drei Buchstaben HME sind so zu einer Eigenmarke in der literarischen Welt geworden. Ins Licht der kulturellen und der intellektuellen Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik trat der Beamtensohn 1957 mit seinem Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“. In diesem Buch zeigte er in konsequenter Kleinschreibung, dass Gedichte nicht nur Gefühle und die Natur beschreiben, sondern auch ein Transportmittel für politische Gedanken sein können. Heute lässt sich kaum mehr bemessen, welchen Stellenwert Lyrik in der damaligen Zeit auch deswegen hatte.

Enzensberger gehörte zu den „zornigen jungen Männern“

Galt er in dieser Periode – auch seine berühmt-berüchtigte Analyse der „Spiegel“-Sprache gehört in diese Zeit – als „zorniger junger Mann“, trat er den Achtundsechzigern schon als gereifter Mann entgegen. Mit seiner Zeitschrift „Kursbuch“ wurde er zu einer Orientierungsfigur für die Studentenbewegung jener Tage. Doch er blieb gleichwohl in kritischer Distanz, was ihm die jungen zornigen Männer und Frauen der Spätsechziger oft genug übelnahmen.

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Enzensberger ließ sich halt nicht festlegen, nicht festnageln. Als Verehrer und Vermittler französischer Aufklärer – vor allem Diderot und d’Alembert mit ihrer „Encyclopédie“ begleiteten ihn zeitlebens – war er ein Verfechter kritischen Abstandhaltens. Wenn ihn eine Bewegung, eine Zeitströmung verorten oder gar vereinnahmen wollte, machte er gern einen seiner eleganten Moves: einen Schritt zur Seite, besser noch zwei, bloß nie dort sein, wo alle stehen, eine ganz andere Perspektive einnehmen. „Wer das licht sehen will / wie es ist / muss zurückweichen / in den schatten“, heißt es in seinem Gedichtzyklus „Schattenwerk“ von 1975. Dort im Schatten stand Enzensberger, und beobachtete schreibend und mitschreibend alles ganz genau.

„Der kurze Sommer der Anarchie“ und „Die Andere Bibliothek“

Er verfasste unter anderem mit „Mausoleum. 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts“, „Der Untergang der Titanic“ oder „Die Geschichte der Wolken“ weitere Lyrikbände. Er veröffentlichte Prosabände wie das berühmte Buch „Der kurze Sommer der Anarchie“, „Hammerstein oder der Eigensinn“ oder seine literarisch-autobiografische Schrift „Tumult“. Er gründete Anfang der Achtzigerjahre mit „Transatlantik“ noch einmal eine Zeitschrift, und die von ihm gegründete Buchreihe „Die Andere Bibliothek“ verschönert noch heute jedes Buchregal, das intellektuelle im eigenen Kopf genauso wie das im Wohnzimmer stehende.

Rede bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung 1968: Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger.

Rede bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung 1968: Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger.

In Erinnerung werden auch Enzensbergers Bonmots bleiben. Kaum eine kritische Meditation über das Reisen kommt ohne seinen Satz „Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet“ aus. Schön auch sein Satz: „Eigentlich bekommt man nur dann einen Kredit, wenn man keinen nötig hat.“ Und in seinem Spätwerk „Fallobst“ schrieb er: „Beim Essen einer Blutorange denke ich, dass die Welt mir mehr gegeben hat als ich ihr“. Ob er den Satz voller Demut oder voller Ironie denkt, können sich seiner Leserinnen und Leser aussuchen.

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Enzensberger zeichnete nicht nur eine hohe Flexibilität und Eleganz im Denken aus, sondern auch eine Fähigkeit, die er nicht mit vielen seiner Kolleginnen und Kollegen teilte: Er konnte Fehler eingestehen, sich und der Öffentlichkeit. In einem Interview sagte er dazu einen seiner typischen Enzensberger-Sätze: „Es wäre mir übrigens unangenehm, wenn ich ständig recht behielte.“

„Wie flüchtig sind unsere Meinungen / und unsere Werke, verglichen mit dem, / was wir miteinander teilen“, schrieb HME in seinem Gedicht „Angewohnheiten“. Die Erinnerung an Hans Magnus Enzensberger wird nicht flüchtig bleiben, so viel steht fest. Dagegen steht ein großes schriftstellerisches und essayistisches Werk.

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