„Fräulein Julie“ am Deutschen Theater: In Zeiten des Kontrollverlusts

Kämpfen: Jean (Felix Goeser) und Julie (Linn Reusse).

Kämpfen: Jean (Felix Goeser) und Julie (Linn Reusse).

Da steht er nun, einer der großen Manipulatoren der Weltliteratur, und ist selbst nicht mehr als eine manipulierte Marionette. Jean, der Diener aus August Strindbergs „Fräulein Julie“, hat in dieser modernisierten Fassung des Klassikers, die am Donnerstagabend im Deutschen Theater Berlin Premiere feierte, einen Knopf im Ohr und flüstert Julie ein, was ihm vorgegeben wurde. Wer ist hier noch Herr seiner Gedanken und seines Handelns – und wer nur Getriebener? Aber der Reihe nach.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

1888 schrieb der Schwede August Strindberg im dänischen Exil sein Drama „Fräulein Julie“. Das Stück wurde postwendend verboten, erst in den 1950ern Jahren kam es mit vollständigem Text zur Aufführung. Heute hingegen ist es Strindbergs meistgespieltes Stück. Es handelt – ganz grob gesagt – von der jungen Adelstochter Julie, die eine intensive Nacht mit ihrem Diener Jean verbringt, inklusive Sex. Der wiederum nutzt die Situation sowie seine Bildung und seine Cleverness aus, um die junge Frau zu erpressen, zu kontrollieren, an ihr Geld zu kommen, die Standesunterschiede durch Machtgehabe, Sexualität und demonstrative Männlichkeit zu nivellieren und Julie am Ende in den Selbstmord zu treiben.

Timofej Kuljabin hat den Text an einer Stelle radikal verändert

So manches aus dem Stück ist mittlerweile veraltet: Ein adeliger Vater, dessen Macht wie ein Schatten über dem Originalstück hängt, kann heute keine sonderliche Angst mehr verbreiten. Auch ist Sex zwischen Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen – wenn man das noch so bezeichnen möchte – heute weder ungewöhnlich, noch skandalös. Deshalb hat der Regisseur Timofej Kuljabin das Stück in die Gegenwart verlegt. Julie, Diener Jean und dessen Verlobte Christine bewegen sich durch eine moderne Küche im gehobenen Ikea-Chic, Handys liegen auf dem Tisch, die Kleidung verweist auf das Jahr 2021 und nicht auf 1888.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Vor allem aber hat Kuljabin gemeinsam mit dem Dramaturgen Roman Dolzhanskij Strindbergs Text umgestrickt, ohne jedoch das Original unkenntlich zu machen. Doch eine radikale Änderung sticht hervor: Der russische Regisseur führt mit Thomas eine ganz neue Figur ein. Der Ex-Verlobte von Julie, den diese mit einem kompromittierenden Video im Internet bloßgestellt hat, will sich an der jungen Frau rächen. Sein Plan ist, ein Rachevideo aufzunehmen. Er lässt Jean eine Kamera in der Küche platzieren, dank der Thomas in seiner kleinen Butze sitzend alles beobachten kann. Er verkabelt sich mit Jean und kann ihm Sätze ins Ohr sprechen, die Jean für offenbar viel Geld wiederholen soll, um Julie in schwierige Situationen zu bringen. Das alles funktioniert sogar eine Zeit lang.

Doch dann gerät die Situation außer Kontrolle, erst für Thomas, der Jean nicht mehr erreichen kann und zusehen (und zuhören) muss, wie Jean und Julie miteinander schlafen. Dann verlieren auch Julie und Jean die Macht über ihr eigenes Handeln. Was zunächst Chaos wird, endet in einer Tragödie.

Kuljabin ist es dank textlicher und dramaturgischer Stellschrauben gelungen, den alten Klassiker des naturalistischen Theaters in die Gegenwart zu holen. Was für Strindberg die unsichtbare Kraft der Psyche war, wird hier die heimliche Kontrolle der Situation durch einen vierten Protagonisten mitsamt modernster technischer Mittel. Nicht fassbar und doch folgenreich ist beides.

Was seit Strindbergs Zeiten zudem virulent geblieben ist, ist der Kampf der Geschlechter. Geradezu unlesbar und reaktionär erscheint heute Strindbergs Vorwort zu dem Stück, in dem er von „Halbfrauen“ fabuliert und davon, dass der Mann über der Frau steht. In diesem Stück kommen Mann und Frau zwar zwischenzeitlich zusammen, aber der Akt wird in Kuljabins Inszenierung als Kampf dargestellt, nicht als liebevolle Vereinigung. Geschlechtsverkehr wird so zum Zusammentreffen von Partikularinteressen. Mann und Frau stehen einander weiter unversöhnlich gegenüber.

Linn Reusse gibt eindrücklich die entrückte Instagram-Göre

Dass dieser Abend ein kurzweiliger Bühnenabend wird, liegt aber in erster Linie an den vier Schauspielerinnen und Schauspielern. Linn Reusse gibt Julie als verwöhnte, zuweilen entrückte Instagram-Göre. Sie ist nicht eins mit ihrer Wirklichkeit, ihre Überlegenheit über Jean und ihre vermeintliche Kontrolle der Situation sind nur Schein. Dies alles fällt zusammen, als der Boden der Realität ein harter wird und der Schein plötzlich dem Sein weichen muss.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Konfrontiert mit der Situation, vom Fahrer ihres Vaters entjungfert worden zu sein, und mit den daraus resultierenden Entscheidungen, fliehen zu wollen (oder zu müssen), Geld für Jeans Hotelwunsch aufzutreiben und auf die Grausamkeit der Wirklichkeit zu treffen, ist Julie restlos überfordert. Sie reagiert hysterisch, verzweifelt, schreiend, flehend, sich selbst erniedrigend, fragend, hin und her schwankend – aber niemals vernünftig. Linn Reusse schafft es, all dies mit ihrem Spiel nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar werden zu lassen.

Am Ende stehen alle als Verlierer da

Aber auch Jean ist nicht Herr der Lage, anfangs nicht, weil er den kleinen Sprachbefehlen in seinem Ohr folgt, später, weil auch er mit der Situation nicht mehr klarkommt. Felix Goeser nimmt man es ab, wie er die fremden Sätze, die Thomas ihm einflüstert, im Mund dreht, schmeckt, verweigern will, sie aber dann doch ausspricht. Das Geld lockt halt. Auch Jean muss aus seiner Rolle treten und scheitert, während Felix Goeser eben dies nicht tut, in seiner Rolle zu scheitern.

Zwischen Thomas (kontrolliert gespielt von Božidar Kocevski), Jean, Julie und Christine (Franziska Machens schafft es wunderbar, in ihren kurzen Bühnenmomenten aus der im Original bloß skizzierten Köchin eine eigenständige Person zu machen) bilden sich immer wieder neue Allianzen – und dadurch entstehen auch immer wieder neue Gegnerschaften. Doch am Ende stehen alle vier als Verlierer da.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Dies alles macht die Neuinszenierung des Strindberg-Klassikers zu einem unterhaltsamen Theaterabend. Das Publikum, das lange applaudiert, wird sich im Anschluss vielleicht seine Gedanken über Kontrolle und Kontrollverlust gemacht haben. In Zeiten einer weltweiten Pandemie, unbeherrschbarer Klimaphänomene mit Waldbränden und Hochwassern und außer Kontrolle geratenen sozialen Medien ein sehr gegenwärtiger und aktueller Denkimpuls.

“Fräulein Julie” nach August Strindberg in der Regie von Timofej Kuljabin läuft am Deutschen Theater Berlin wieder am 13., 14., 29. und 30. August.

Mehr aus Kultur

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken