Die „Dreigroschenoper“ wieder in Berlin: Fühlst du mein Herz schlagen?

Selbstbewusst und stark: Nico Holonics als Mackie Messer.

Selbstbewusst und stark: Nico Holonics als Mackie Messer.

Der Haifisch also wieder. Der immer noch Zähne hat. Und wo sonst sollte er sie tragen als im Gesicht? „Die Dreigroschenoper“ ist eines der meistgespielten, meistzitierten, durch- und noch mal durchinterpretierten Theaterstücke. Wie soll man diese Oper oder besser Antioper von Brecht/Weill/Hauptmann nun noch einmal auf die Bühne bringen? Und das auch noch am Berliner Ensemble (BE), im Theater am Schiffbauerdamm, wo 1928 die Geschichte von Mackie Messer sowie der Verlorenheit und Verlogenheit der kapitalistischen Gesellschaft ihre Uraufführung feierte und nun (erst) zum fünften Mal in seiner Geschichte gezeigt wird.

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Mit diesem Päckchen auf den Schultern hat sich zu Beginn der diesjährigen Spielzeit Opernregiestar Barrie Kosky an den Brecht-Stoff gewagt. Kosky ist einer der fantasievollsten, innovativsten und gefragtesten Opernregisseure der Gegenwart. Der Deutsch-Australier führt mittlerweile in seiner zehnten und letzten Spielzeit die Komische Oper, drei Straßen vom BE entfernt. Dort hat er unter anderem Mozarts „Zauberflöte“ in ein solch stimmungsvolles expressionistisches Bilderspektakel verwandelt, das man nur mit offenem Mund schauen kann, weil das Staunen einfach nicht aufhört.

Noch ein Vorhang und noch ein Vorhang und noch ein Vorhang

Und so steigen vor Beginn der Premiere am Freitagabend mit jeder Minute Vorfreude und Spannung, mit welchen Regieeinfällen, Bühnenbildern und Spezialeffekten Kosky den Schauspielklassiker zum Klingen und Schwingen bringen wird. Der Regisseur weiß natürlich um diese Erwartung und beginnt das Spiel nüchtern mit dem Mond, der die „Moritat von Mackie Messer“, eben den berühmten Song mit dem Haifisch und den Zähnen, durch einen Glitzervorhang lugend singt.

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Der Haifisch, der hat Zähne: Josefin Platt spielt den Mond, der auch die „Moritat von Mackie Messer“ singt.

Der Haifisch, der hat Zähne: Josefin Platt spielt den Mond, der auch die „Moritat von Mackie Messer“ singt.

Okay, Vorfreude ist die schönste Freude. Weiter geht’s: Als die Lamettagardine hochgezogen wird, finden sich dahinter riesige Stahlgerüste und -ebenen, eine symbolische Großstadtskyline im gefühlskalten Funktionsstil, auf denen die Schauspielerinnen und Schauspieler ein wenig herumklettern können und so etwa Cynthia Micas die „Seeräuber-Jenny“ („Und ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen wird liegen am Kai“) ungefähr auf Augenhöhe mit dem ersten Rang singen kann.

Hochgeklettert: Das Bühnenbild besteht weitgehend aus Stahlgerüsten.

Hochgeklettert: Das Bühnenbild besteht weitgehend aus Stahlgerüsten.

Hinter all dem Stahl befindet sich ein weiterer Vorhang, und man vermutet, das Feuerwerk an Ideen versteckt sich dann wohl dahinter. Doch im Laufe der Inszenierung wird klar, dass dahinter nur noch ein weiterer Vorhang wartet und sich dann ein weiterer aus Nebel bildet, und als schließlich irgendwann diese ganze Vorhangsmatroschka ein Ende hat, wird ersicht­lich: Da ist nichts.

Das ist zum Ersten sehr bedauerlich (wegen des genannten überbordenden Einfallsreichtums Koskys), zum Zweiten verständlich (weil zur „Dreigroschenoper“ wahrscheinlich wirklich schon alles gesagt, gezeigt und gespielt wurde, weil Werktreue, Ironie und Dekonstruktion schon zigfach durchexerziert wurden), zum Dritten aber hat es einen entscheidenden Vorteil: Der Text und die Musik rücken in den Vordergrund. Sie stehen im Mittelpunkt des Abends, keine Bilder, Filme, Sensationen.

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Das Ensemble kommt ohne große Namen aus

Dadurch wandern auch die Akteure viel mehr ins Zentrum der Aufführung. Und mit welcher Spielfreude, mit welch komödiantischem Spaß und mit wie viel Herz und Kraft und Schweiß und Feuereifer stehen die acht Frauen und vier Männer auf den berühmten Brechtschen Brettern. Das Ensemble kommt ohne große Namen aus, der Zugang ist jung und erfrischend unroutiniert.

Nico Holonics hat als Mackie Messer blutunterlaufene Augen und dicke Ringe am Finger und spielt den Verbrecherkönig breitbeinig und so selbstbewusst wie einer, der weiß, dass ihm keiner das Wasser reichen kann. Cynthia Micas glaubt strahlend, schwebend, singend, schimpfend im Schwanenkostüm fest an die eine, die gute alte bürgerliche Liebe, die ihr Macheath nicht geben kann und will. Tilo Nest und ganz fantastisch Constanze Becker spielen das Ehepaar Peachum als geschäftstüchtig eingespielte Ehebusinessallianz. Polizeichef Tigerbrown wird durch Kathrin Wehlisch zur fast schon chaplinhaften Berliner Zwanzigerjahre-Karikatur. Bettina Hoppe interpretiert die Spelunkenjenny kühl kalkulierend und als gut funktionierende Ich-AG. Und Lucy, die sogar die 1928 vor der Uraufführung gestrichene „Arie der Lucy“ singt, bekommt durch Laura Balzer etwas pubertär Flummihaftes und Tiktok-Speed-Aufgedrehtes.

Wer ist gut, wer böse? Kathrin Wehlisch als Polizeichef Tigerbrown und Tilo Nest als Peachum.

Wer ist gut, wer böse? Kathrin Wehlisch als Polizeichef Tigerbrown und Tilo Nest als Peachum.

Sie alle bereiten mit ihrem Spiel und den Songs so viel Freude, dass in den drei Stunden der Premiere immer wieder Szenenapplaus, ja Szenenjubel ausbricht. Überhaupt die Songs: Sie werden nicht als Beistück zum Text von der Rampe weggesungen, so wie in vielen Inszenierungen der Eindruck entsteht, Text- und Liedpassagen gehören gar nicht recht zusammen. Sondern hier ist alles im Fluss. Die Songs in der herausragenden musikalischen Leitung von Adam Benzwi werden halb gesprochen, halb gesungen, sie schließen nahtlos an das vorher Gesagte an. Die Schauspieler und Schauspielerinnen führen auch innerhalb des Gesungenen Dialoge. Etwa, wenn Peachum väterlich langatmig im „Ersten Dreigroschenfinale“ („Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“) über Armut und Reichtum, Gut und Böse referiert und seine Tochter Polly dazwischenruft: „Papa, komm zum Punkt!“

Liebe in Zeiten des Kapitalismus

Und nun, da wir uns auf den Text und die Songs konzentrieren können, wird sichtbar, dass viele Sätze trotz der vordergründigen moralischen Implikationen Brechts gar nicht so verstaubt sind wie lange gedacht. Dass Mitleid eine endliche Ressource ist, merken wir täglich, wenn wir die Nachrichten anschauen oder lesen. Dass Liebe und Beziehungen sich unter dem Einfluss des Kapitalismus (und heute zusätzlich der Digitalisierung) immer mehr zu einem reinen Zweck entfremden, spüren Millionen Unglückliche und Alleingelassene täglich. Dass wir oft alles Ungerechte und Unsoziale hinnehmen, weil „die Verhältnisse nun mal so sind“ und so auch Veränderungsansätze im Keim erstickt werden, prägen diese Gesellschaft seit Jahrzehnten. Und dass das Prinzip alle gegen alle nur ausgehebelt wird, wenn man kurzfristig mal Allianzen bildet, die einem in diesem Kampf nutzen, ist eine Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft.

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Diese „Dreigroschenoper“, da muss man kein großer Prophet sein, wird ein großer Erfolg an ihrer alten Heimatbühne sein. Das Publikum – 75 Prozent der Plätze im BE durften besetzt sein – feierte die Akteure bereits immer wieder während der Vorstellung, der Schlussapplaus war lang und heftig. Auch wenn sich Barrie Kosky ein paar Buhrufe abholen musste, wird er sich in der langen Reihe der „Dreigroschenoper“-Regisseure nicht verstecken müssen. Dafür sorgen vor allem die fabelhaften Schauspielerinnen und Schauspieler. Mit all ihrem „Fühlst du mein Herz schlagen?“-Schwung.

Die Besetzung und weitere Termine

„Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt Weill unter Mitarbeit von Elisabeth Hauptmann. Mit: Tilo Nest, Constanze Becker, Cynthia Micas, Nico Holonics, Kathrin Wehlisch, Laura Balzer, Bettina Hoppe, Josefin Platt, Heidrun Schug, Julia Berger, Nico Went, Julie Wolff, Nicky Wuchinger / Tobias Bieri, Dennis Jankowiak, Denis Riffel, Teresa Scherhar.

Regie: Barrie Kosky, Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Dinah Ehm, Licht: Ulrich Eh, Tongestaltung: Holger Schwank, Dramaturgie: Sibylle Baschung.

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Orchester: Adam Benzwi / Levi Hammer, James Scannell, Doris Decker, Vít Polák, Otwin Zipp, Stephan Genze, Ralf Templin.

Dauer: 3 Stunden, eine Pause. Nächste Vorstellungen am 14., 15., 20., 21., 22. August und im September.

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