Eine Gala zum Erinnern: „Systemsprenger“ räumt beim Deutschen Filmpreis ab
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Edin Hasanović moderierte die Verleihung des Deutschen Filmpreises.
© Quelle: Florian Liedel/Deutsche Filmakad
Berlin. Dreierlei war ungewöhnlich in diesem Augenblick: Die Siegerin war die bislang jüngste überhaupt, sie saß am heimischen Küchentisch, und sie schrie vor Glück. Die elfjährige Helena Zengel hatte soeben die Lola als beste Hauptdarstellerin im berührenden Drama „Systemsprenger“ von Regisseurin Nora Fingscheidt gewonnen. Zengel spielt darin ein Mädchen, das all jene in die Verzweiflung treibt, die ihr helfen wollen - Sozialarbeiter, Ärzte, Pflegemütter.
Wer einen bestimmten Moment sucht, warum die 70. Gala zum Deutschen Filmpreis am späten Freitagabend erinnerungswürdig war: Hier wäre einer. Es gab aber noch einige mehr. Dass diese Feier aussergewöhnlich sein würde, hatte sich schon aus der Einladung ablesen lassen: “Dresscode: festlich bis bequem” stand darauf. Und: “Catering: Hausbar und Häppchen”. Und dann war da noch zu lesen: “Feiern Sie mit uns - nicht zusammen und doch gemeinsam!”
“Systemsprenger” hatte die Nase deutlich vorn
In früheren Jahren war der Deutsche Filmpreis eine mehr oder weniger ausgelassene Party mit rund 2000 herausgeputzten Gästen - so viele Mitglieder zählt die Akademie, die über die Preise entscheiden. In Corona-Zeiten mit sicherheitsbedingter Kontaktsperre wurde daraus eine Ein-Mann-Show von Moderator Edin Hasanovic mit Hund und einem DJ in einem gähnend leeren Fernsehstudio. Die allermeisten Galas werden zurzeit abgesagt. Filmakademie-Präsident Ulrich Matthes und Kulturstaatsministerin Monika Grütters aber wollten mit der ARD-Live-Übertragung ein Zeichen der Hoffnung setzen, obwohl der Filmbetrieb gerade still steht.
Kinos sind geschlossen, Produktionen gestoppt, eine große Leinwand gibt es bestenfalls im Autokino zu bestaunen. Die zu ehrenden Filmkünstler saßen denn auch zu Hause und ließen sich zuschalten, so wie wir es aus unseren täglichen Videokontakten kennen. Am Ende hatte „Systemsprenger“ die Nase ziemlich deutlich vorn vor „Berlin Alexanderplatz“ von Regisseur Burhan Qurbani, dem anderen Favoriten. Für „Systemsprenger“ gab es mit der Goldenen Lola nicht nur den Hauptpreis, sondern auch gleich noch sieben weitere Auszeichnungen - darunter die für Regie und Drehbuch für Fingscheidt. Gabriela Maria Schmeide, gekürt als beste Nebendarstellerin, wirbelte beglückt Konfetti vor der Kamera in ihrem Wohnzimmer auf.
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Edin Hasanović moderierte die Verleihung des Deutschen Filmpreises.
© Quelle: Florian Liedel/Deutsche Filmakad
“Das Kino soll leben”
Viel mehr Glamour war nicht. Ein doppelter Coup gelang Albrecht Schuch: Er wurde als bester Hauptdarsteller in „Systemsprenger“ gekürt und ebenso als bester Nebendarsteller in „Berlin Alexanderplatz“. Für die in eine raue Flüchtlingsgegenwart transferierte Verfilmung von Alfred Döblins Berlin-Roman blieb die Trophäe in Silber plus vier weitere Ehrungen.
Ist Kino nun wirklich so wichtig, dass es in belastenden Pandemie-Zeiten unbedingt auf sich aufmerksam machen muss? Schon aus rein finanziellen Gründen: Der Deutsche Filmpreis wird aus der Schatulle von Kulturstaatsministerin Monika Grütters mit insgesamt knapp drei Millionen Euro beschenkt, die für kommende Produktionen zu verwenden sind. Allein die Goldene Lola bringt eine halbe Million ein. Nach Corona soll es ja irgendwie weiter gehen. Denn die wichtigste Botschaft des Abends lautete: „Das Kino soll leben“, wie es Filmakademie-Präsident Ulrich Matthes formulierte – der zusammen mit Grütters leibhaftig im Studio auftauchte (außerdem taten das Iris Berben, Fahri Yardim, Nilam Farooq, Jannis Niewöhner und Ronald Zehrfeld auf dem Motorrad). Da war es egal, dass manche Dankesrede verrauschte und Fingscheidt - zugeschaltet aus dem fernen Vancouver - wegen technischer Schwierigkeiten gar nicht mitbekam, dass sie gerade eben wieder gewonnen hatte. Geschenkt auch, dass Moderator Hasanovic nach schwungvollem Auftakt die Luft ausging.
Der deutsche Film hat mit dieser Gala nachdrücklich seinen Überlebenswillen demonstriert. Bei dieser aufgezwungenen Wohnzimmerparty wurde das Kino als gemeinschaftlicher Ort beschworen, nach dem sich alle zurücksehnen.„Systemsprenger“ lief noch vor Corona im Kino und ist auf DVD und bei Streamingdiensten zu haben. „Berlin Alexanderplatz“ wurde kurz Opfer der Corona-Krise. Ein Kinostart soll jedoch folgen, sobald das wieder möglich ist. Garantiert.
Das sind die Gewinner des 70. Deutschen Filmpreises:
BESTER SPIELFILM GOLD:
„Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt
BESTER SPIELFILM SILBER:
„Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani
BESTER SPIELFILM BRONZE:
„Es gilt das gesprochene Wort“ von Ilker Çatak
BESTER DOKUMENTARFILM:
„Born in Evin“ von Maryam Zaree
BESTER KINDERFILM:
„Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Caroline Link
BESTE WEIBLICHE HAUPTROLLE
Helena Zengel für „Systemsprenger“
BESTE MÄNNLICHE HAUPTROLLE:
Albrecht Schuch für „Systemsprenger“
BESTE WEIBLICHE NEBENROLLE:
Gabriela Maria Schmeide für „Systemsprenger“
BESTE MÄNNLICHE NEBENROLLE:
Albrecht Schuch für „Berlin Alexanderplatz“
BESTE REGIE:
Nora Fingscheidt für „Systemsprenger“
BESTES DREHBUCH:
Nora Fingscheidt für „Systemsprenger“
BESTE KAMERA/BILDGESTALTUNG:
Yoshi Heimrath für „Berlin Alexanderplatz“
BESTER SCHNITT:
Stephan Bechinger und Julia Kovalenko für „Systemsprenger“
BESTE MUSIK:
Dascha Dauenhauer für „Berlin Alexanderplatz“
BESTES SZENENBILD:
Silke Buhr für „Berlin Alexanderplatz“
BESTES KOSTÜMBILD:
Sabine Böbbis für „Lindenberg! Mach dein Ding“
BESTES MASKENBILD:
Astrid Weber und Hannah Fischleder für „Lindenberg! Mach dein Ding“
BESTE TONGESTALTUNG:
Corinna Zink, Jonathan Schorr, Dominik Leube, Oscar Stiebitz und Gregor Bonse für „Systemsprenger“
BESTE VISUELLE EFFEKTE UND ANIMATION:
Jan Stoltz und Claudius Urban für „Die Känguru-Chroniken“
BESUCHERSTÄRKSTER FILM DES JAHRES:
„Das perfekte Geheimnis“ von Bora Dagtekin
EHRENPREIS:
Edgar Reitz