Der Mann, der uns Woyzeck erklärt
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Menschenerklärer: Der Autor Steve Sem-Sandberg.
© Quelle: picture alliance / TT NEWS AGENCY
Hannover. Er ist vielleicht nicht ganz so berühmt wie Goethes Faust. Aber Woyzeck, dieser sich verirrende, Freimaurer fürchtende, mordende Ex-Soldat, den Georg Büchner 1836 in seinem gleichnamigen Dramenfragment verewigt hat, gehört zu den berühmteren Personen der deutschen Literaturgeschichte.
Kaum ein Gymnasiast hat – zumindest lange Zeit – seine Schulzeit verlebt, ohne vom bemitleidenswerten Außenseiter zu lesen, der seinem Hauptmann als Bursche dient und sich aus Armut für ein Menschenexperiment zur Verfügung stellt. Dafür muss er ständig Erbsen essen, immer wieder Erbsen. Geld muss Woyzeck auch deshalb verdienen, weil er nicht nur sich, sondern auch seine Geliebte Marie und das gemeinsame uneheliche Kind durchbringen muss.
Woyzeck war eine reale Person
Büchners Protagonist ist kein reines Produkt der Dichterfantasie, sondern war eine reale Person. Büchner hatte Gerichtsakten und Gutachten studiert und aus der realen Person Johann Christian Woyzeck seinen Dramenantihelden Franz Woyzeck gemacht.
Eine Mischung aus Fakten und Fiktion
Mit denselben Akten hat sich nun der Schriftsteller Steve Sem-Sandberg für seinen Roman „W“ beschäftigt. Der Schwede hat in dem 400 Seiten starken Buch in einer Mischung aus Fakten und Fiktion das Leben dieses armen Tropfs aufgeschrieben und fragt, wie aus dem langjährigen Söldner ein Frauenmörder werden konnte. Sem-Sandberg, der bereits in Büchern wie „Die Elenden von Lódz“, „Die Erwählten“ und „Theres“ realen in literarischen Stoff umgewandelt hat, setzt auch hier auf das Prinzip, dass die Wirklichkeit die besten Geschichten erzählt. Es braucht halt immer nur einen Schriftsteller, der diese besten Geschichten dann auch gut aufschreibt.
Das Zitat findet sich in den Gerichtsakten
„Stich, stich die Woostin tot. Stich sie tot, tot!“ Wie ein Motto stehen die Worte von Woyzecks innerer Stimme zu Beginn des Romans. In leicht abgewandelter Form findet sich das Zitat in den Gerichtsakten, Johann Christian Woyzeck hat damals angegeben, diese Befehle „gehört“ zu haben.
Wie in der Realität und bei Büchner bleibt Woyzeck auch in diesem unter die Haut gehenden, intensiven Roman der Mörder seiner Geliebten. Doch Sem-Sandberg versucht zu verstehen, wie aus dem eher unscheinbaren Mann ein Totschläger werden konnte. „Es war“, sagt Woyzeck bei Sem-Sandberg, „als packte mich die Hand eines Riesen bei der Brust.“ Er habe, so seine Sicht, sich nicht zu dem Mord entschlossen. „Alles war bereits entschieden, verstehen Sie, Herr Wachtmeister.“
Menschen landeten in „Irrenhäusern“
Mit diesem Gefühl, nicht Herr seines eigenen Lebens zu sein, begründet der Getriebene seine Tat. Heute wäre die Diagnose einer psychischen Erkrankung klar, medizinische und psychologische Behandlung möglich. Doch im 18. und frühen 19. Jahrhundert (und auch lange danach) war der Umgang mit psychischen Krankheiten noch ein anderer. Eine Kategorisierung wie im Klassifikationssystem DSM 5 lag noch in weiter Ferne. Menschen landeten in „Irrenhäusern“, sie galten als verrückt – wie ein Möbelstück, das nicht mehr an seinem richtigen Platz steht. Seelische Probleme infolge von unzählig beobachteten Gewalttaten im Krieg, aber, wie im Fall Woyzeck, auch von Missachtung oder Verhöhnung durch seine Mitmenschen – das war zu Woyzecks Zeit noch nahezu unerforscht. Verirrtsein und Verwirrtsein galten als Strafe Gottes, als verdienter Lohn für Missetaten, aber nicht als Krankheiten, die behandelt werden müssen.
Der Autor entscheidet über den Nobelpreis mit
Wie sehr Woyzeck in diese schwarzen Löcher der Seele fällt, ist in „W“ eindrucksvoll zu lesen. Auch wenn Sem-Sandberg viel Fantasie aufbringen muss. Zwar ist die Aktenlage im Fall Woyzeck, etwa die Einschätzungen des Gutachters Clarus, sehr gut dokumentiert. Der 62-jährige Autor, der seit dem vergangenen Jahr in der Schwedischen Akademie sitzt und damit auch über den Literaturnobelpreis mitentscheidet, konnte mit diesen Schriftstücken arbeiten. Aber alles, was in Woyzeck vor sich geht, Eindrücke auf seinen Wanderschaften durch die Welt- und Kriegsgeschichte, Gespräche mit seiner Geliebten, Gedanken, Gefühle, all das kann nur Teil einer literarischen Fantasie sein. Darüber gibt es keinerlei Dokumente.
Gleichwohl lässt Sem-Sandberg neben der woyzeckschen Aktenlage geschickt auch andere authentische Ereignisse einfließen. So landet Woyzeck in „W“ kurzzeitig beim Stadtphysikus und Medizinalrat Günther Schönberg. Dieser berichtet von einer „Frauenperson, die eines Tages in meine Praxis kam und erklärte, ein ganzes Bündel Nadeln verschluckt zu haben“. Dies verweist auf eine wahre Geschichte, die Georg Büchners Vater Ernst einst für die Nachwelt festgehalten hatte: Demnach war die 18-jährige Catharina D. zu ihm gekommen, weil sie sich mit einer ungesunden Anzahl von Steck- und Nähnadeln, die sie verschluckt hatte, das Leben nehmen wollte. Sem-Sandberg schickt also den fiktionalisierten Woyzeck in einer halbfiktiven Geschichte zum fiktionalisierten Vater des realen Georg Büchner, um dort eine reale Geschichte zu hören. Und ist dann der Sohn des Arztes, den Woyzeck in „W“ begleitet, vielleicht sogar der fiktionalisierte Georg Büchner? Ein wunderbares Spiel über Bande.
Ein uraltes literarisches Verfahren
Nun ist die Fiktionalisierung von realen Personen und Ereignissen ein uraltes Verfahren. Schiller hat den realen Wallenstein dramatisiert, Carl Zuckmayer den Hauptmann von Köpenick literarisiert. Und so weiter. Auch in Kino und Fernsehen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten sogenannte Biopics zu einem beliebten Genre entwickelt.
Können Kunstwerke das (Geschichts-)Wissen beeinflussen?
Doch in Zeiten, in denen die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion auch außerhalb der literarischen und filmischen Welt immer mehr verwischen, stellen sich Fragen an dieses Genre noch einmal ganz anders. Welche Gefahren bestehen bei dieser Vermischung von Wahrem und Ausgedachtem? Können solche Kunstwerke das (Geschichts-)Wissen beeinflussen? Erkennt der Leser und die Zuschauerin immer zuverlässig, was Fakt und was Fiktion ist?
Zuletzt hat genau in diesem Spannungsfeld die Netflix-Serie „The Crown“ zu Diskussionen geführt. „The Crown“ erzählt das Leben von Queen Elizabeth II. Angeblich arbeiten fünf Historiker mit dem Drehbuchautor Peter Morgan zusammen, um Authentizität sicherzustellen. Auf der anderen Seite bekennt sich Morgan dazu, dass er Fakten zuspitzt oder gar Personen erfindet.
So gelang es 1982 dem Arbeitslosen Michael Fagan, in den Buckingham Palace einzubrechen und bis ans Bett der Queen vorzudringen. Für etwa zehn Minuten redete er mit ihr. So viel zu den Fakten. Wie das Gespräch verlief, ist bis heute nicht bekannt. Wer „The Crown“ schaut, wo die Szene nachgestellt wird, hat nun aber das Gefühl, über diesen skurrilen Moment der englischen Geschichte Bescheid zu wissen.
Britische Regierung warnt vor „The Crown“
Die britische Regierung hat bereits vor „The Crown“ gewarnt und Netflix aufgefordert, vor jeder Folge deutlich darauf hinzuweisen, dass es sich um Fiktion handelt. Zu sehr könnte die Serie durch das Vermischen von Dichtung und Wahrheit der Institution Königshaus schaden. Und da Lady Di seit Staffel vier eine wichtige Rolle spielt, hat Prinz William bereits gefordert, seine Mutter aus der Serie herauszuhalten.
Sem-Sandberg kennt und schätzt das Spiel zwischen Fakten und Fiktion. Zum einen gibt es ihm Sicherheit: „Es ist gut für mich, etwas Konkretes vor Augen zu haben und dies dann weiterzuschreiben. Es ist vergleichbar mit der Situation, wenn man etwas schwach in den Knien ist, ein Geländer zu haben, um sich festzuhalten, wenn man droht, die Treppe hinunterzufallen“, sagt der Schwede im Videogespräch. „Doch ich benutze zwar Fakten, aber ich bin nicht von ihnen abhängig.“
Für ihn als erfahrenen Leser sei die Unterscheidung zwischen Fiktion und Fakten, zwischen einem Roman und einem historischen Sachbuch klar und gut erkennbar. Aber: „Ich habe schon häufig die Frage gehört, ob nicht Leser, die nicht mit dem Unterschied zwischen Fiktion und Fakten vertraut sind, in die falsche Richtung geführt werden könnten.“ Und natürlich, so Sem-Sandberg weiter, könne ein Leser in der Grauzone zwischen beidem landen.
Verstehen, was in anderen vorgeht
Allerdings sieht er einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Zweck eines Romans und dem Zweck eines auf Fakten basierenden Sachbuchs. Der Zweck eines Romans sei nicht etwa zu vermitteln, was in einer historischen Situation exakt passiert ist. „Sondern der Zweck des Schreibens von Prosa, von Romanen ist, sich in den Kopf, den Verstand oder einen Geisteszustand eines Menschen hineinzuversetzen. Natürlich ist das nur eine Projektion des Schriftstellers, aber mit dieser Vorgehensweise des Autors kann man vielleicht verstehen, wie – etwa im Fall von Woyzeck – Menschen unter extremem Stress handeln. Der Zweck des Romans ist, zu verstehen, was in der Hauptperson und den anderen Personen vorgeht.“
Aber auch Sem-Sandberg sieht die Gefahr von Fake News und einem zu laschen Umgang mit Fakten. „Natürlich gibt es Menschen, die Dokumentationen drehen oder Serien für die Streamingindustrie, die keineswegs daran interessiert sind, ob sie die historische Wahrheit erzählen.“ Sondern deren Augenmerk darauf liegt, die wahren Gegebenheiten auszuschmücken und zu verdrehen. „Aber das würde ich als Romancier niemals machen, ich würde niemals ein Interesse daran haben.“
Steve Sem-Sandberg: „W“. Deutsch von Gisela Kosubek. Klett-Cotta. 414 Seiten, 25 Euro.