Corinna Harfouch in „Queen Lear“: Star Wars und vertauschte Geschlechterrollen
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/PEVXJNEVW5ECTHKLZPWR24KF5E.jpeg)
Erst Raumschiffkapitänin, später wahnsinnig auf der Erde unterwegs: Corinna Harfouch als Queen Lear.
© Quelle: Monika Skolimowska/dpa-Zentralbi
Schräg gestellte Sätze, die von vorn nach hinten Richtung Bildhorizont laufen und die Handlung verorten: Da geht sofort die popkulturelle Lampe an – it’s Star-Wars-Time. Es war einmal vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis … Aber wieso denn Galaxis, warum Weltalltag, warum Space-Spaß? Wir sind doch im „King Lear“? Ja, schon im Lear, aber nicht in England, nicht in der vorrömischen Zeit und auch nicht bei strengen Shakespeare-Apologeten. Sondern im Berliner Gorki-Theater, Weltraumzeit: 20. Februar 2022, 18 Uhr.
Aber in diesem Lear ist sowieso alles anders. Girls will be boys and boys will be girls – so wie die Kinks schon vor 50 Jahren in „Lola“ sangen, sind auch hier die Geschlechterrollen getauscht. Das beginnt bei der Hauptrolle: King Lear ist heute Abend Queen, in der Hauptrolle ist Corinna Harfouch zu sehen. Und sie spielt wie immer königinlich. Lear hat auch nicht wie in Shakespeares Original drei Töchter, sondern zwei Töchter und einen Sohn. Das Personal des zweiten Dramenstrangs um den Herzog von Gloucester und seine beiden Töchter ist ebenfalls durchgewürfelt: Aus Vater Gloucester mit zwei Töchtern wird Mutter Gloster mit Tochter und Sohn. Und Clerk Kent, dessen Rolle sich Fabian Hagen für den erkrankten Lindy Larsson innerhalb kürzester Zeit erarbeiten musste, wechselt nach seiner Verbannung die Kleidung und die Frisur und tritt von da an als Frau auf.
Lear kann als Königin genauso naiv handeln wie als Mann
Und warum denn auch nicht? Lear kann als Königin genauso naiv und gedankenlos handeln wie als Mann. Sie kann genauso auf ihre Kinder hereinfallen, kann genauso dem Wahnsinn verfallen, kann genauso später im Wahn erstmals wirklich klarsehen. Und es muss im Hause Gloucester auch nicht ein Sohn sein, der seinen Halbbruder ins Exil und in den (gespielten) Irrsinn mobbt, eine Schwester kann auch drangsaliert werden. Hier gilt: Alles gleich, alles geht, alles auf null, Frauen und Männer, Täter und Täterinnen, Opfer, Opfer und noch mehr Opfer.
Das Autorenkollektiv Soeren Voima, hinter dem unter anderem der Dramaturg und Regisseur Christian Tschirner steckt, hat sich in der Textversion dieses überraschend komischen Abends zum einen eng an Shakespeares Dramenstruktur entlanggehangelt, zum anderen aber die Sprache mit originalen Passagen und modernem Zeitgeistsprech („WTF. Hast du gemerkt, wie unberechenbar die Alte geworden ist?“) durch den Textmixer gejagt. Zudem werden diesem Smoothie Genderdiskurse, Identitätsdebatten, Konflikte zwischen Jung und Alt und Klimawandelstreitigkeiten beigemischt. Allerdings ohne anstrengend und zu bierernst zu werden. Star Wars wird hier nicht zum Gendersternchen-Krieg.
Mischung aus Comic und Vorabendserie
Aber wieso denn nun eigentlich Star Wars? Weil bei George Lucas wie bei Shakespeare ein Eltern-Kind-Konflikt wichtig ist? Weil es hier wie da um Macht und Machtverlust, Imperien und Gewalt geht? Regisseur Christian Weise inszeniert das Stück in der ersten Hälfte als Film und als Parodie auf Raumschiffserien. Die Schauspieler und Schauspielerinnen agieren live hinter der Leinwand, Marlene Blumert und Tama Ruß filmen, sind mit ihren Kameras in Daueraktion, ändern Perspektiven, sodass sie wie Filmschnitte wirken – sie machen das Theaterstück filmreif.
Dank der Bühnenausstattung und der Animationen von Julia Oschatz wirkt das alles wunderbar trashig und wird zu einer Mischung aus Comic und schlimmster dramensimulierender Vorabendserie. Vor allem Aram Tafreshian als böser Gloster-Bube Edmund kommt der Persiflage am nächsten, wenn er immer wieder mit seinen brachial-komischen Achtung-ich-täusche-das-nur-vor-und-bin-ein-ganz-Schlimmer-Gesichtsausdrücken in die Kamera schaut.
Nach der Pause zerfasert das Stück
Rein ins Theaterstück. Beam me down, Scotty (auch wenn das die Konkurrenzveranstaltung war)! Zu Beginn des Stücks/Films sitzt Corinna Harfouch als Queen Lear im Herrscherkostüm auf der Raumschiffbrücke ihres Lear-Jets und teilt nicht nur ihr Land, sondern gleich die ganze Welt auf. Während sie ihre Jungs Goneril und Regan zu Schmeicheleien und Liebeserklärungen motivieren kann, kommt ihrer Tochter Cordelia diese ganze falsche und berechnende Schleimerei nicht über die Lippen. Yanina Céron in ihrem Prinzessin-Leia-Look wird später nicht wie im Original als Französin, sondern als kämpferisch-schreiende Amazone („Aber unseren Aufstieg können sie so wenig verhindern wie den Aufgang der Sonne“) ins Mutterland zurückkehren. Dieser heilige Ernst ist allerdings erst nach der Pause der insgesamt gut dreistündigen Inszenierung zu hören. Da zerfasert das Stück, wird zu ernst, zu beliebig.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/JMXZXOO67FDYRDKSDU6XYKT4CA.jpg)
Unfassbar komisch: Svenja Liesau als Sister Eddi.
© Quelle: imago images/Martin Müller
Seinen Höhepunkt erlebt der Gorki-Lear in den ersten zwei Dritteln vor der Pause, geprägt von viel Ironie und Komik. Die heimliche Hauptrolle an diesem Abend spielt Svenja Liesau als Sister Eddi, Tochter von Bobby Gloster (die Corinna Harfouchs jüngere Schwester Catherine Stoyan verkörpert). Eddi muss sich nach einer Intrige ihres Bruders ins Exil retten und gibt sich als Bettler Tom aus. Liesau erzählt in dieser Rolle einen solch wunderbar wahnsinnigen Schwachsinn, wie man ihn sonst nur in der Berliner U‑Bahn hören darf. Auch Cornelia Harfouch kann einen Moment nicht mehr ernst bleiben und fällt lachend aus ihrer Rolle.
Ist Queen Lear Mutter Erde?
Wer will, kann sich an diesem Abend hier und da Interpretationsfetzen zusammensuchen, kann Spitzen gegen die vielen Sinn und Unsinn stiftenden Debatten unserer Gegenwart erkennen. „Der Zeitgeist will, dass Irre Blinde führen“, heißt es an einer Stelle frei nach Shakespeare. Und am Ende sagt der von Oscar Olivo gespielte, oft augenöffnende Clown: „Ich wage an der Stelle mal ’ne Prophezeiung, wo das Ganze historisch so rausläuft: Die Erde, sage ich Ihnen hier und jetzt, wird unsere Liebhaberin sein. Wir werden uns wieder mit ihr vereinen. Denn die Erde ist nicht die senile Mutter, die man mit Mindestrente ins Altersheim schickt.“ Da trifft ein Plädoyer für das Alter mit Fridays for Future zusammen.
Wer will, kann Queen Lear also am Ende als Mutter Erde sehen und als ihre Erben und Erbinnen uns Menschen, die aus dem gegebenen Erbe gerodete Erde machen, sodass am Ende (wie im Stück) alle verrückt, rücksichtslos, mordend, ratlos und letztlich mausetot sind. Wer will, kann sich an diesem Abend – wie der Großteil des jubelnden Premierenpublikums – aber auch einfach nur amüsieren.
Nächste Vorstellungen am 5., 6., 19. und 20. März.