Aus der Komfortzone katapultiert: Goldene Palme für „Triangle of Sadness“ in Cannes
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Ruben Östlund posiert mit der Goldenen Palme.
© Quelle: Getty Images
Ob die Jury sich der Ironie bewusst war? Mit diesem Siegerfilm hat sie dem Festival selbst gewissermaßen den Spiegel vorgehalten: Der Schwede Ruben Östlund gewann mit der derben Kapitalismussatire „Triangle of Sadness“ die Goldene Palme von Cannes – und karikiert in seinem gefeierten Werk die Welt der Superreichen, wie sie sich knapp zwei Wochen lang zwischen Filmkunstfans in Cannes getummelt hat.
„Triangle of Sadness“ spielt zu großen Teilen auf einem Luxuskreuzfahrtschiff. Östlund macht sich einen Spaß daraus, die Passagiere – darunter Influencer, Models, Oligarchen und Waffenhändler – aus ihrer Komfortzone zu katapultieren. Erst – Pardon! – kotzen sie sich in einem Sturm während des Kapitändinners die Seele aus dem Leib, dann landen sie nach einem Piratenüberfall auf einer Insel. Bisherige Gewissheiten gelten nichts mehr, soziale Sicherheiten ebenso wenig.
Ein klein bisschen ist es auch Cannes in diesem Jahr so ergangen: Der Ukraine-Krieg schwappte immer wieder in diese glitzernde Blase unter Palmen und löste das unangenehme Gefühl aus, dass Spaziergänge über den roten Teppich womöglich doch nicht das Wichtigste sind.
Krieg bleibt außen vor
Am Abend der Preisverleihung aber spielte der Krieg bestenfalls in der einen oder anderen Bemerkung eine Rolle. Noch bei der Cannes-Eröffnung war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zugeschaltet worden. Eher pflichtgemäß würdigte die Zeremonienmeisterin, die belgische Schauspielerin Virginie Efira, nun das Festival, das die „wahrhaftige politische Kraft der Kultur demonstriert“ habe.
Goldene Palme für „Triangle of Sadness“
Die Goldene Palme ging an den Satire-Film „Triangle of Sadness“ des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund.
© Quelle: Reuters
Die neunköpfige Jury unter ihrem Präsidenten Vincent Lindon konzentrierte sich darauf, die zahlreichen Auszeichnungen zu verteilen. Und was tut eine Jury, die keinen echten Favoriten aus dem Bewerberfeld herausfiltern kann? Sie verteilt die Preise großzügig über die 21 Wettbewerbsbeiträge. Man könnte auch sagen: Sie schwenkt die Gießkanne – und zwar so heftig, dass sie gleich zwei Auszeichnungen teilte und eine zusätzliche aus dem Hut zauberte.
Das kleine Belgien zeigt sich als eine Kinonation
Zwei Dinge allerdings fielen auf: Das kleine Belgien zeigte sich an diesem Abend als eine Kinonation, die alle anderen überflügelte, auch die der gastgebenden Franzosen. Und die Regisseurinnen blieben wieder einmal weitgehend außen vor.
Für Östlund war dies bereits die zweite Palme. Mit seiner deutlich feiner gezeichneten Satire „The Square“ über die Kunstszene hatte er sich 2017 schon einmal durchgesetzt.
Todesmutige Journalistin
Beste Darstellerin wurde die iranische Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi: Sie spielt in dem Thriller „Holy Spider“ eine todesmutige Journalistin, die sich einem Sexarbeiterinnen-Serienkiller als Lockvogel anbietet. Der Film zeige all das, was im Iran nicht gezeigt werden könne, sagte Ebrahimi bei der Preisverleihung. Gedreht werden musste der Film in Jordanien.
Bei den Männern hob die Jury den Südkoreaner Song Kang-ho (bekannt aus „Parasite“) aufs Podest. Er verkörpert in „Broker“ den empathischen Mittelpunkt einer zusammengewürfelten Wahlfamilie, die ein Neugeborenes verkaufen und für das Baby doch das Beste will. Wem diese Konstellation bekannt vorkommt: Der Regisseur von „Broker“ ist der Japaner Hirokazu Kore-eda, der auch schon den Cannes-Sieger „Shoplifters“ (2018) inszeniert hat.
Der Große Jurypreis ging ex aequo an die tragische Coming-of-Age-Geschichte „Close“ des Belgiers Lukas Dhont und an den romantischen Politthriller „Stars at Noon“ der Französin Claire Denis. Über den Regiepreis freute sich der Südkoreaner Park Chan-wook mit seinem Noir-Thriller „Decision to Leave“. Den Drehbuchpreis holte sich der aus einer ägyptischen Familie stammende Schwede Tarik Saleh: Sein Thriller „Boy from Heaven“ erlaubt ungewöhnliche Einblicke ins Innenleben einer Koranschule in Kairo.
Geteilter Jurypreis
Auch der Jurypreis wurde geteilt: Die eine Hälfte ging an die belgische Produktion „Le Otto Montagne“ von Charlotte Vandermeersch und Felix Van Groeningen, die Geschichte einer Freundschaft vor grandioser Naturkulisse, die andere Hälfte an „EO“, eine Neuinterpretation von Robert Bressons Film „Zum Beispiel Balthasar“. Ein Esel geht seinen Weg in einer mitleidlosen Welt.
Der polnische „EO“-Regisseur Jerzy Skolimowski bedankte sich namentlich bei den Eseln in seinem Film. Das war einer der wenigen witzigen Momente in einer mit beinahe heiligem Ernst abgehaltenen Veranstaltung.
Einen Spezialpreis zum 75. Geburtstag lobte die Jury zusätzlich aus. Die Trophäe vergaben sie an würdige Gewinner: Wenn jemand diese Auszeichnung verdient hat, dann die beiden belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit ihrem Sozialdrama „Tori et Lokita“ über zwei jugendliche afrikanische Immigranten. Die Dardennes filmen seit bald einem halben Jahrhundert an der Seite der Schwachen in dieser Gesellschaft.
Bedeutete dieses Festival nun die endgültige Rückkehr des Kinos nach bitteren Pandemiejahren, die exzessiv unter südfranzösischen Palmen gefeiert wurde? Cannes hat gewiss Lust gemacht auf die große Leinwand – auch außerhalb eines Festivals, das die besten Autorenfilmer aus der ganzen Welt zusammenbringt und nebenbei ein paar Hollywoodknaller aufsteigen lässt („Top Gun“, „Elvis“).
Glamour und Filmkunst im Schatten des Krieges
Und doch hat die 75. Ausgabe die siebte Kunst nicht in dem Maße zum Strahlen gebracht wie in früheren Jahren. Zu groß waren die Bedrängnisse und Konflikte, die Aktivistinnen und Aktivisten immer wieder auf dem roten Teppich protestieren ließen. Glamour und Filmkunst standen notgedrungen im Schatten des Krieges.
Aber warten wir‘s ab: Der übliche Abschiedsgruß in Cannes lautet: À la prochaine! Bis zum nächsten Mal.
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