Schwarzbrot oder Glitzer in den Hauptstadtkinos? Diese Fragen muss die Berlinale beantworten
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Ausgezeichnet: Die deutsche Schauspielerin Meltem Kaptan, die im Film „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ begeisterte.
© Quelle: imago images/Xinhua
Das Beste, was man über diese Berlinale sagen kann, ist dies: Sie hat stattgefunden. So viel Gegenwind wie bei der Entscheidung, sich inmitten rasant steigender Corona-Infektionszahlen an eine Präsenzveranstaltung zu klammern, dürfte dem Berlinale-Leitungsduo in seiner nunmehr dreijährigen Amtszeit noch nicht entgegengeweht sein.
Mit vollem Risiko haben Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, sekundiert von einer kinobegeisterten Kulturstaatsministerin, an der großen Leinwand festgehalten. Offenbar hat sich die Berlinale tatsächlich nicht zu einem Superspreader-Event entwickelt. Das Kino hat seine Durchhaltekraft und vielleicht sogar seine viel beschworene gesellschaftliche Relevanz bewiesen. Der trotzige Mut der Festivalmacher hat sich ausgezahlt.
Wie attraktiv ist die Berlinale noch?
Ist jetzt also wieder alles gut beim mit Abstand wichtigsten deutschen Filmfestival? Und wird im kommenden Jahr noch besser bei der 73. Ausgabe?
Nicht unbedingt. Das Festival hat an Strahlkraft verloren, und das nicht nur wegen Corona. Mit der Attraktivität von Cannes oder Venedig kann die Berlinale kaum mehr mithalten. Die Berlinale galt schon immer als „Arbeitsfestival“ – mit besonderer Betonung auf politische Filme, geschuldet der Historie in der einst geteilten Stadt. Nun scheint sie sich ganz aufs Schwarzbrot konzentrieren zu wollen.
Ein Filmfestival ist ein Zirkus, und der Chef ist der Direktor in der Manege. Amtsvorgänger Dieter Kosslick ist dafür oft gescholten worden, aber er hat die Berlinale als Gesamtkunstwerk inszeniert. Wenn er mit einem mittelprächtigen Hollywoodfilm Rummel auslösen konnte, versenkte er den Film kurzerhand außer Konkurrenz und genoss trotzdem die Aufregung am roten Teppich. Vom medialen Aufschlag profitierte auch der iranische Autorenfilmer, für dessen (Reise-)Freiheit man sich gleichzeitig stark machte.
Ohne Filmkunst, ohne Entdeckungen und Experimente ist ein Kinofestival nichts. Der künstlerische Direktor Chatrian hat sogar noch eine weitere Reihe „Encounters“ für cineastische Innovationen eingeführt und damit seine Pflicht vielleicht sogar übererfüllt. Aber zu einem Megaevent gehört mehr. Für die Ausgabe 2023 stellen sich Fragen:
Wie sehr soll die Berlinale glitzern?
Wie wichtig sollen Glanz und Glitzer künftig sein? Hollywood findet Berlin offenbar nicht mehr attraktiv genug, um mitten in der Oscarsaison stargespickte Delegationen nach Übersee zu entsenden. Das Schaulaufen findet bei der Konkurrenz statt. Während sich Kinoprominenz am französischen Meeres- beziehungsweise italienischen Lagunenstrand tummelt, setzt die Berlinale vorrangig auf Arthouse-Kino ohne große Namen. Wes Anderson wartet lieber auf Cannes und Pedro Almodóvar auf Venedig. Nur François Ozon dreht so schnell, dass er überall auftaucht. Lassen sich die Verbindungen in die US-Kinometropole wieder vertiefen?
Welche Rolle spielt künftig Netflix?
Wie soll mit Netflix, Amazon und Co umgegangen werden? Die Bedeutung der Streamingplattformen wächst. Hier entstehen hochkarätigen Werke, mit denen sich manche Festivals gern schmücken. Venedig hat die Streamingdienste ins Programm integriert – dort lief Jane Campions Oscarfavorit „The Power of the Dog“. Cannes stemmt sich mit Macht gegen die Plattformen und will die Leinwand fürs Kino pur reservieren. Die Berlinale verweist derweil auf die Sektion „Series“ und vertröstet: Man müsse die Lage noch ein paar Jährchen beobachten.
Ist der Wintertermin unverrückbar?
Ist der Februar-Termin wirklich unantastbar? Gewiss, die Slots für die großen Festivals sind eng getaktet – und zudem gekoppelt an die wichtigen Filmmärkte, auf denen Rechte und Lizenzen gehandelt werden. Und doch: Ein Termin außerhalb des pandemiegefährdeten Winters wäre ein unschätzbarer Befreiungsschlag.
Bei der nächsten Ausgabe 2023 kann das Festival hoffentlich wieder unbeschwert auf seinen größten Trumpf setzen: aufs Publikum. Hier hat die Berlinale als Hauptstadtfestival ein Alleinstellungsmerkmal. Es gibt, gemessen an den Besucherzahlen, kein größeres Kinoereignis weltweit.
Die immer wieder erhobene Forderung, das ausufernde Programm auszudünnen, wäre kein Vorteil. Unüberschaubar bleibt es doch. Keine Besucherin und kein Besucher kann in einem normalen Berlinale-Jahr 400 Filme sichten. Zwei Drittel davon wie in diesem Jahr sind aber auch nicht zu schaffen. Gerade die prall gefüllte cineastische Wundertüte begeistert die Berliner.
Die Hauptstadtbewohner dürfen noch bis Sonntag mit Maske und auf Abstand Berlinale-Filme genießen, darunter die wunderbare Bären-Siegerin Meltem Kaptan in Andreas Dresens Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“. Im nächsten Jahr drängeln sie sich hoffentlich wieder heftig am roten Teppich.