Publikum trotz Pandemie: die Berlinale und ihre riskante Festival­strategie

So sah die Berlinale vor der Pandemie aus: Beim 72. Festival Mitte Februar sind Menschenaufläufe zu vermeiden.

So sah die Berlinale vor der Pandemie aus: Beim 72. Festival Mitte Februar sind Menschenaufläufe zu vermeiden.

Grüne Woche Ende Januar abgesagt, Tourismusmesse ITB Anfang März ins Internet abgewandert: Ganz Berlin gibt sich dem Omikron-Virus geschlagen. Ganz Berlin? Es gibt eine Großveranstaltung in der Hauptstadt, die der Pandemie hartnäckig Widerstand leistet. Oder sollte man sagen: die in ein kaum zu kalkulierendes Risiko geht?

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Die 72. Berlinale soll als Präsenzveranstaltung stattfinden. Das hat die Festivalleitung am Mittwoch offiziell kundgetan. Man kann sich gut vorstellen, dass sich das Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian in den vergangenen Wochen vor ungläubigen Nachfragen kaum retten konnte, ob sie die Filmfestspiele denn nun wirklich wie geplant eröffnen würden.

Berlin, der Großstadthotspot

Trotz explodierender Infektionszahlen, Aufrufen zu Kontaktbeschränkungen und Berlin als Großstadthotspot sollen vom 10. bis 20. Februar Filme gezeigt werden – unter 2G-plus-Bedingungen, mit Masken- und Testpflicht. Die Zahl der Plätze im Kino wird halbiert. Tickets gibt es nur online. Empfänge und Partys werden gestrichen. Die Preisverleihung soll auf den 16. Februar vorgezogen werden, um danach dem Publikum die Gelegenheit zu geben, die cineastischen Neuheiten zu entdecken.

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Was die Verkürzung für den illustren Wettbewerb heißt, ist noch unklar. Das Programm soll erst am 19. Januar präsentiert werden.

Wir erinnern uns: Vor einem Jahr stand die Leitung vor einer ähnlich schwierigen Entscheidung. Am Ende zeigten Chatrian und Rissenbeek im Februar ihre Filme lediglich einem Fachpublikum per Videostream und legten im Sommer für die kinobegeisterten Berliner auf der großen Leinwand nach, gern auch unter freiem Himmel. Das Lob war groß für diesen aufwendigen Spagat.

Die Festivalleitung muss schon gute Argumente vorweisen, wenn sie nun Publikum aus dem In- und erst recht aus dem Ausland nach Berlin locken will. Ein Argument liefert die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), deren Haus zu den Hauptsponsoren zählt: „Wir wollen mit dem Festival ein Signal an die gesamte Filmbranche, an die Kinos und Kinogänger und die ganze Kultur setzen. Wir brauchen das Kino, wir brauchen die Kultur.“

Die Politik hat in knapp zwei Pandemiejahren gelernt, dass sich Kultur nicht mit Freizeitvergnügen oder gar Bordellen gleichsetzen und dichtmachen lässt. So wie im ersten Corona-Jahr geschehen. Und doch bleiben mehr Fragen offen, als der Berlinale lieb sein kann.

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Der für das Festival wichtige Europäische Filmmarkt ist komplett ins Internet verschwunden, weil laut Berlinale die „hohe Begegnungsfrequenz“ unter den Messebesuchern zu hoch gewesen wäre. Aber begegnen sich Besucherinnen und Besucher nicht auch vor und in den Kinos, erst recht in den S-Bahnen auf dem Weg zum Potsdamer Platz? Im Januar terminierte Festivals wie Sundance in den USA oder Max Ophüls in Saarbrücken weichen ins Digitale oder in eine Hybridvariante aus. Wie viel Sicherheit für die Besucherinnen und Besucher kann die Berlinale garantieren, die sich andere nicht zu garantieren trauen?

Und wie viel sind Stars wert, die man nur bedingt auf dem roten Teppich vorzeigen kann? Kommt die Kinoprominenz überhaupt zu einem Ereignis, bei dem sie schon im Flugzeug gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt ist?

François Ozon, Regisseur des Eröffnungsfilms („Peter von Kant“), taktisch klug beinahe zeitgleich mit der 2G-plus-Regelung bekannt gegeben, freut sich nach eigenen Worten schon auf Berlin. Die französische Schauspielerin Isabelle Huppert soll den Goldenen Ehrenbären bekommen, Jurypräsident ist der US-Regisseur M. Night Shyamalan („The Sixth Sense“).

Für Filmemacherinnen und -macher ist ein Auftritt auf einem namhaften Festival unersetzbar, wollen sie nicht im digitalen Nirwana versinken. Auf der Berlinale werden sie wahrgenommen, bevor ihre Film dann hoffentlich tatsächlich in geöffneten Kinos starten.

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Übermächtige Konkurrenz in Cannes

Aber das dürfte nur die halbe Wahrheit für das Beharrungsvermögen sein. Tatsächlich geht es um das Selbstverständnis der Berlinale. Schon im Vorjahr geriet sie gegenüber der sowieso übermächtigen Konkurrenz in Cannes und Venedig ins Hintertreffen. Diese beiden Festivals können erneut darauf hoffen, im Sommer und Herbst in vergleichsweise entspannter Infektionslage einzuladen.

Eine zweite Digitalausgabe würde die Attraktivität der Berlinale als Publikumsfestival mit 300.000 verkauften Tickets in normalen Jahren womöglich dauerhaft schmälern. Deshalb bürdet sie sich jetzt eine große Verantwortung auf.

Das Festival will unter allen Umständen im Wortsinn Präsenz zeigen – auch auf die Gefahr hin, als eine Art Geisterfestival in die Annalen einzugehen. Entweder weil sich die Gäste wegen der Infektionsgefahr mit gehörigem Abstand aus dem Weg gehen oder weil schon nach ein paar Tagen zu viele von ihnen in Quarantäne im Hotel hocken.

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