Berlinale-Highlight: Im neuen “Berlin Alexanderplatz” ist Franz Biberkopf ein Flüchtling

Die Darsteller von "Berlin Alexanderplatz" bei der Berlinale.

Die Darsteller von "Berlin Alexanderplatz" bei der Berlinale.

Berlin. Franz Biberkopf: Das war der wuchtige Heinrich George im Film “Berlin Alexanderplatz” von 1931. Günter Lamprecht spielte den Kraftmenschen Biberkopf 1980 in Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie. Und jetzt verkörpert der im westafrikanischen Guinea-Bissau geborene und in Portugal aufgewachsene Welket Bungué den Mann, der in Berlin ausgespuckt wird.

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Zunächst heißt Franz noch Francis. Er hat schwarze Haut. Wir bewegen uns auch nicht in den letzten Jahren der Weimarer Republik, sondern in unserer Gegenwart. Francis wird nicht aus der Strafanstalt Tegel entlassen, und er ist auch nicht der triebhaft-dumpfe Gelegenheitsarbeiter, den wir aus Alfred Döblins Jahrhundertroman von 1929 kennen.

Regisseur Burhan Qurbani hat sich diesen berühmten Stoff gegriffen und allen Ballast der bisherigen Umsetzungen abgeschüttelt. Aktueller lässt sich ein Klassiker kaum interpretieren.

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Francis kommt als Flüchtling nach Berlin

Francis kommt über das Mittelmeer zu uns. Er ist ein Flüchtling. Als er auf dem Meer beinahe ertrinkt und mit letzter Kraft um sein Leben ringt, schwört er bei Gott, ein anständiger Mensch zu werden. Wenn ihn die Panik ergreift, kann sich die Leinwand schon mal um 180 Grad drehen. Sein Fluchttrauma wird Francis nie wieder los.

In Berlin ist Francis ein Illegaler, ein Ausgestoßener. Ohne Papiere und ohne Arbeitserlaubnis existiert er gar nicht. Aber er hat ein Ziel: Er will vom Rand der Gesellschaft in deren Mitte. Er will mehr als nur ein Bett und ein Butterbrot. Er will seine Würde zurück. Und er will, nun ja, ein bürgerliches Leben.

Alle haben jüngst begeistert auf die Serie „Babylon Berlin“ geschaut. Den großen zeitgenössischen Text über die Zwanziger hat Alfred Döblin 1929 geschrieben. In seiner Collagen-Meisterschaft erinnert er an andere große Werke der Weltliteratur wie “Ulysses” von James Joyce und “Manhattan Transfer” von John Dos Passos.

Des Themas Rassismus hat sich Qurbani schon früher angenommen. In seinem Abschlussfilm “Shahada” (2010) an der Filmakademie Baden-Württemberg erzählte er von drei Muslimen in Berlin. Aufmerksamkeit erregte er mit „Wir sind jung. Wir sind stark“ (2015) über die rassistisch motivierten Ausschreitungen 1992 in Rostock-Lichtenhagen.

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Roman fürs Abitur gelesen

Qurbani ist gebürtiger Rheinländer und Sohn afghanischer Flüchtlinge, die 1979 nach Deutschland kamen. Flüchtlingsgeschichten kennt er.

In Berlin wohnt er am Volkspark Hasenheide und sieht täglich die zumeist schwarzen Drogendealer. Da kam ihm die Idee, dass ein heutiger Franz Biberkopf einer von ihnen sein könnte. Den Roman „Berlin Alexanderplatz“ hatte er wie so viele andere auch fürs Abitur gelesen.

Qurbani malt sein multikulturelles Franz-Biberkopf-Deutschland in schrillen, bunten Farben. „Transen, schöne Amazonen und einarmige Banditen“ wohnen hier, wie es einmal heißt. Wir bewegen uns auf Baustellen, wo Flüchtlinge schuften, und in widerlichen Wohnunterkünften, wo sie eingepfercht werden.

Der Handlung des Romans bleibt der Regisseur treu. Auch sprachlich blitzt das Original auf – wodurch ästhetische Distanz aufgebaut wird und der Film übers Sozialdrama hinausreicht. Vom “Schnitter Tod” hören wir aus dem Off und auch über die “Hure Babylon”. So wie bei Christian Petzolds gewagter Verfilmung von Anna Seghers Roman “Transit” (2018) verwischen sich die Zeiten.

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Jella Haase spielt eine Escort-Dame

Franz will sich von allem Ungemach fernhalten. Aber da ist Reinhold , ein großer Menschenverführer. Wenn einer wie Reinhold um einen ist, wird es auf Dauer schwer mit der Anständigkeit. Albrecht Schuch (der zupackende Sozialarbeiter in “Systemsprenger” und der durchgeknallte Investmentbanker in “Bad Banks”) gibt Reinhold als Psychopathen mit Potenzial zum Serienkiller.

Erst einmal aber begegnet Franz seiner Mieze (Jella Haase, ganz ohne ihr Proll-Image aus “Fack ju Göhte”). Mieze ist als Escort-Dame unterwegs. Sie ist selbstbewusst, und westlich arrogant kann sie auch sein, wenn sie sich über Franz ärgert: “Wir sind hier nicht in Afrika”, sagt sie.

Für Franz ist Mieze die große Liebe, und er ist das auch für sie. Reinhold hält es nicht aus, wenn sich zwei mehr lieben als ihn. Wir wissen, wie die Geschichte ausgeht.

Heißer Favorit auf den Bären

“Berlin Alexanderplatz” in dieser dreistündigen Neufassung ist ein großer Wurf – und ein Ereignis der Berlinale, die über manchen Tag ohne Höhepunkt dahinplätscherte. Der italienischstämmige Berlinale-Chef Carlo Chatrian hatte zu Beginn eine Empfehlung für deutsche Regisseure parat: Sie sollten nicht immer nur aufs heimische Publikum schauen, sondern größer denken.

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Am kommenden Sonnabend werden wir bei der Bären-Vergabe erfahren, wie die Jury um Jeremy Irons die internationale Wettbewerbsfähigkeit von “Berlin Alexanderplatz” beurteilt.

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