Aus Liebe zum Rad: Schaltet Deutsch­land jetzt aufs große Ketten­blatt?

Alexa: Ein Renn­rad, wie es viele Profis über französische Land­straßen wuchten.

Alexa: Ein Renn­rad, wie es viele Profis über französische Land­straßen wuchten.

Sie heißt Alexa, ist jetzt vier Jahre alt und hat ihren eigenen Kopf. Sie ist öfter kaputt, als man es erwarten würde. Und Reparaturen sind teuer. Wenn es regnet, quietschen ihre Scheiben­bremsen. Wenn man nicht aufpasst, hört die Schaltung auf zu schalten, weil der Akku leer ist. Und allzu steil sollte die Strecke nicht sein. Ihre Übersetzung ist auf flaches Terrain ausgelegt. Alexa ist anspruchsvoll. Eine Diva mit zwei sehr teuren Rädern.

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Aber an guten Tagen, wenn die Sonne scheint, wenn ihre elektrische Schaltung die gut geschmierte Kette in Sekunden­bruchteilen über die leichten Ritzel fliegen lässt und sich ihre Karbon­laufräder durch den Fahrt­wind fräsen, dann ist das vergessen.

Alexa ist ein Rennrad von der Sorte, wie es die Profis über französische Land­straßen wuchten. Ihr Lenker ist aus einem Karbon­guss geformt, ihre Entwickler haben auf jedes Watt Energie­ersparnis geachtet, als sie sie am Computer skizziert und im Wind­kanal optimiert haben. Sie haben das ziemlich gut gemacht. Und eigentlich ist es eine Schande, Alexa im Amateur­tempo über den Asphalt rollen zu lassen – man fühlt sich dieser Renn­maschine nicht recht würdig.

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Alexa hat mehrere Mitbewohner, die ebenfalls zwei Räder, Pedale und einen Lenker haben. Sie stehen oder hängen zusammen in der Wohnung herum. Nicht prominent, sondern im hinteren Zimmer. Es muss ja nicht jeder sofort sehen, dass ihr Besitzer sich in den vergangenen Jahren etwas hinein­gesteigert hat in die ganze Fahrrad­sache. Seine Frau hat sich daran gewöhnt, dass sie zuweilen allein Zug fahren muss, weil er die gleiche Strecke lieber mit dem Rad bewältigt. Im Urlaub darf er gern Touren fahren – wenn er auf dem Rück­weg Brötchen mitbringt.

Dabei dachte er, dass ihm Status­symbole eher unwichtig wären. Einmal hatte sein früherer Chef am Rande einer Firmen­feier etwas verkrampft versucht, ihn in einen Small­talk zu zwingen. Welches Auto er denn fahre, wollte er wissen. Dazu sei gesagt: Der Chef hatte einst seinen Dienst­wagen zurück­gegeben, weil der aus seiner Sicht zu wenig PS hatte. Mit seiner selbst ausgesuchten Karosse quälte er sich fortan Morgen für Morgen durch den Berufs­verkehr – erzählte dafür aber jedem, der es hören wollte oder nicht, dass er sich nicht vorstellen könne, mit weniger Motor­leistung zu leben.

Oder gar ganz ohne Auto? Nein, das würde nicht gehen. „Ein Auto bedeutet Freiheit.“

Alexas Besitzer denkt oft an diesen Satz. Wenn er über einsame Land­straßen braust und sich fragt, wie es mehr Freiheit geben könnte als in diesem Moment. Wenn er auf einem seiner anderen Räder durch eine Innen­stadt düst und Dutzende von diesen motorisierten Freiheits­maschinen überholt, die an Ampeln Schlange stehen. Wenn er eines seiner Räder an einen Laternen­mast kettet, während andere Leute noch einen Park­platz suchen. Oder wenn ihm der Fahrt­wind an einem Ort um die Nase weht, an den man in einem tonnen­schweren Gefährt mit vier Rädern niemals gelangen würde.

Freiheit hat viele Gesichter. Mit 180 Sachen über eine deutsche Auto­bahn zu brettern mag eines davon sein. Sich aus eigener Kraft fort­zubewegen ist ein anderes. Diese Form der Freiheit lernen gerade viele zu schätzen. Seit das Virus bestimmte Freiheiten für bestimmte Zeiten genommen hat, hat Deutsch­land ein paar kräftige Pedal­umdrehungen Richtung Fahrrad­land gemacht.

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Rennrad­fahren ist der perfekte Lockdown­sport. Es war, zumindest allein, zu jeder Zeit erlaubt. Die Touren bringen auch im härtesten Lock­down Abwechslung und den Radler weit weg von den eigenen vier Wänden, die man dank Home­office immer seltener verlassen konnte. Tritt man seinen Pendler­weg auf dem Rad an, ist das Ansteckungs­risiko nahe null.

Der deutsche Fahrrad­boom hat Folgen. Die Warte­zeiten für einen Werkstatt­termin sind noch länger geworden. Wer gerade ein neues Rad bestellt, muss bei bestimmten Modellen monate­lang auf eine Auslieferung warten. 2020 wurden in Deutschland nach Angaben des Zweirad-Industrie-Verbands mehr als fünf Millionen Fahr­räder verkauft, das ist eine Steigerung von fast 17 Prozent. Knapp zwei Millionen der verkauften Räder waren ­E‑Bikes. Weil weltweit mehr Fahr­räder gebaut werden, sind auch gewisse Ersatz­teile knapp, die für Reparaturen nötig sind.

Die neue Fahrrad­liebe der Deutschen wird auch Folgen für das Gesicht unserer Städte haben. Freiheit auf zwei Rädern ist das eine, die Sicherheit etwas anderes. Manchen Auto­fahrern fällt es schwer zu akzeptieren, dass die auto­gerechte Stadt ein Modell der Vergangenheit ist. In zahlreichen Städten laufen derzeit Versuche, fahrrad­freundlicher zu werden. In einem Modell­projekt verschenkt etwa die Stadt Bielefeld Geld an Bürger, die auf ihr Auto verzichten. Das ist zunächst auf 50 Personen beschränkt.

Frisch gebaut: eine neue Fahrrad­straße in Tübingen

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Mit einem Modell­­versuch hatte es auch Frankfurt versucht: Die Stadt hatte für ein Jahr einen Teil der Mainufer­straße für Autos dichtgemacht. Aus Sicht der lokalen SPD war das ein Erfolg, der damalige Koalitions­partner CDU sah das anders. Nun ist die Straße wieder für Autos frei. In einer Befragung der Stadt hatte sich eine Mehrheit für eine dauerhafte Auto­befreiung ausgesprochen. Eine Bürger­initiative wirbt dafür – eine andere wehrt sich dagegen, weil sie fürchtet, dass der Auto­verkehr sich vor ihre Haustür verlagert. Ausgang ungewiss.

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Dass gerade viele aufs Rad umsteigen, passiert nicht, weil die Bedingungen auf den Straßen so toll sind – sondern, obwohl sie vieles zu wünschen übrig lassen.

Im Fahr­rad-Klima­test des Allgemeinen Deutschen Fahr­rad-Clubs (ADFC) reichte im Jahr 2020 die Note 3,6 für den ersten Platz unter den großen Städten. Gerade so ausreichend finden die Radler die Bedingungen in Bremen, Gewinner in der Kategorie Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern. Klar, Ziel dieser Befragung ist es, die Unzufriedenheit der Radler zum Ausdruck zu bringen. Aber das ist nicht besonders schwer. Denn Deutsch­lands Städte müssen noch ordentlich strampeln, bis sich Radler auf den Wegen durch die Zentren sicher und wohl fühlen werden.

Bisher ist das nur in Ansätzen zu erkennen. Landauf, landab sollen etwa breite Rad­schnellwege entstehen, auf denen Pendler zügig und sicher von Stadt zu Stadt kommen könnten. Einer von ihnen soll 100 Ki­lo­me­ter quer durch das Ruhr­gebiet führen. Fertig ist bis jetzt nur ein Teil davon.

Die Planungen sind aufwendig, vor allem, wenn die Wege durch dicht besiedelte Gebiete führen sollen. Dazu kommen die Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Auf nationaler Ebene gibt es einen Radwege­plan. Bau und Unterhalt der Strecken liegen am Ende meist in der Hand der Städte und Kreise. Deutsch­land ist manchmal kompliziert.

Man sollte sich da keine Illusionen machen: Deutsch­land bleibt Auto­land. Allein die heftigen Reaktionen auf eine temporäre Auto­befreiung einer Straße in Hannover zeigen, wie stark die Kräfte sind, die am Auto festhalten wollen. Und das zeigt sich auch, wenn in Kommentaren von „Entmündigung“ die Rede ist, sobald jemand fordert, dass Tempo 130 das Limit auf der Auto­bahn sein sollte. Oder wenn Unions­kanzlerkandidat Armin Laschet den gleichen Vorschlag „unlogisch“ nennt oder Verkehrs­minister Andreas Scheuer die Idee als „Fetisch“ bezeichnet.

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Außerhalb Deutsch­lands gibt es auf nahezu allen Auto­bahnen Tempo­limits. Die Bewohner dieser Länder scheinen damit leben zu können. Lediglich die britische Isle of Man verzichtet für ihre Straßen auf jegliche Geschwindigkeits­beschränkungen.

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Bestimmte Journalisten und Politiker werben sogar fürs Rasen und ein auto­gerechtes Land, weil sie wissen, dass ein gehöriger Anteil der Deutschen das ähnlich sieht.

Man möchte diesen Geschwindigkeits­befürwortern wünschen, einmal auf einem (E-)Rad zu sitzen, wenn ein Auto­fahrer sie mit wenig Sicherheits­abstand und zu hohem Tempo überholt – und dabei noch hupt, weil er meint, die Landstraße gehöre allein ihm und seinem Gefährt. Das ist der Geist, den die Gegner einer konsequenten Mobilitäts­wende in die Welt setzen. Genau wie die Selbst­verständlichkeit, auf Rad­wegen zu parken.

Rad­fahren kann eine Qual sein, um ehrlich zu sein, ist es das sogar ziemlich oft – egal, ob auf langen Touren oder auf kurzen Wegen in der Stadt. Jede Stadt­radlerin und jeder Hobby­sportler kennt die kleinen und großen Schmerzen des Alltags auf zwei Rädern.

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Was dagegen hilft? Das richtige Material zum Beispiel. Wer seine Renn­maschine zur Halb­zeit einer Tour am Café abstellt und sie bewundern kann, während der doppelte Espresso neben einem ordentlichen Stück Kuchen auf dem Tisch steht, merkt, dass sie jeden Cent wert ist – oder kann sich das wenigstens leichter einreden.

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