„Arielle“-Komponist Alan Menken: „Meine Musik kennt keine kulturellen Barrieren“
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Mann fürs Gefühlvolle: Komponist Alan Menken.
© Quelle: imago images/Everett Collection
Hannover. Mr. Menken, Disney-Filme sind kleine Fluchten aus der Realität. Brauchen wir märchenhafte Geschichten wie bei Walt Disney in harten und schwierigen Zeiten besonders?
Oh, ja. Wir brauchen Disney gerade sehr, sehr, sehr dringend. Diese Filme und diese Songs lassen uns zurückkehren zu dem Kind, das wir einst waren und das in allen von uns verborgen ist. Egal, wie alt wir sind und wo auch immer wir gerade in unserem Leben stehen – die Emotionen, die ein Film oder eine Filmmusik von Disney in uns auslösen, sind einmalig und gerade mehr denn je äußerst wertvoll für unser seelisches Gleichgewicht.
Sie haben nach einem abgeschlossenen Musikstudium in New York Ihre Laufbahn als Komponist für Broadway-Musicals begonnen, bevor Sie 1989 Ihre Disney-Karriere mit „Arielle, die Meerjungfrau“ begannen. Was ist Ihnen besonders wichtig bei der Arbeit?
Ich will die Geschichte mithilfe der Musik nicht nur unterstützen, sondern auch erzählen. Gerade bei Animationsfilmen dienen die Stücke nicht nur der Untermalung. Sie strukturieren und verstärken die jeweiligen Szenen vielmehr. Von „Micky Maus“ angefangen, ist die Musik bei Disney ein integraler Bestandteil der Geschichten. Und sie hat sich beständig gewandelt – von einem Zischen, wenn Micky rennt, zu einer gefühlvollen Kunstform, die das menschliche Drama der Story unterstreicht.
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Welterfolg: Auch für „Arielle, die Meerjungfrau“ schrieb Alan Menken die Musik.
© Quelle: Disney
Wie gehen Sie beim Komponieren für Filme vor?
Ich gucke mir die Schlüsselelemente der Story an und überlege, wie ich ihnen mit meiner musikalischen Erzählung einen Zusatzwert bieten kann. Dieser Zusatzwert besteht meist aus einer großen Portion an Gefühlen, die universell sind und global funktionieren. Disney-Filme sind globale Ereignisse, und wenn ich meine Arbeit gut mache, verzaubern sie Menschen auf der ganzen Welt. Meine Musik kennt keine Grenzen und keine kulturellen Barrieren.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den einzelnen Regisseurinnen und Regisseuren?
Es ist faszinierend, wie viele verschiedene Regiestile man mit der Zeit kennenlernt. Manchmal ist die gemeinsame Arbeit sehr lustig, manchmal ist sie richtig schwer. Als Komponist bin ich ein Werkzeug der Regisseure. Ich unterstütze deren Vision und reichere sie mit meiner eigenen Vision an. Ich will die Menschen mit meiner Musik nicht irritieren. Ich will ihnen helfen, die Geschichte zu verstehen. Maßgeblich ist die Balance zwischen dem, was die Geschichte braucht, und dem, was das Publikum möchte.
Von welchen Komponisten und Musikern sind Sie beeinflusst?
Natürlich zunächst mal von der romantischen, klassischen Musik, von Beethoven, Mahler, Prokofjew, Mozart oder Tschaikowsky. Die wunderbare Stadt Wien, die ich immer wieder gern besuche, hat hier eine besondere Bedeutung für mich. Später entdeckte ich dann meine Liebe zur Operette und zu französischen Chansons, etwa jenen eines Maurice Chevalier. Ich versuche, mein musikalisches Vokabular stetig zu erweitern, um in jedem Film in einer Sprache zu sprechen, die mit den Bildern korrespondiert und die das Publikum versteht. Ich mag den Gedanken sehr, dass sich die Menschen zu einer bestimmten Musik hingezogen fühlen, ohne erklären zu können, warum.
Können Sie denn erklären, warum Ihre Musik so erfolgreich ist?
Ich versuche, mich von solchen Analysen fernzuhalten. Ich bin auch nicht zu euphorisch bei Triumphen und nicht zu deprimiert bei Fehlschlägen. Letzten Endes bleibt Musik eine irrationale Form der Kunst. Es ist wie in der Liebe. Wir verlieben uns in genau diese eine bestimmte Person. Aber warum? Das werden wir niemals wissen oder genau ergründen können.
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Legendär: Besonders erfolgreich ist Alan Menkens Musik für „Die Schöne und das Biest“.
© Quelle: Disney Enterprises
Besonders legendär ist Ihr 1991 entstandener Soundtrack zum Film „Die Schöne und das Biest“. Wie erinnern Sie sich an die Entstehung?
Wie schon bei „Arielle“ arbeitete ich auch an „Die Schöne und das Biest“ gemeinsam mit meinem Kompositionspartner Howard Ashman. Zu jener Zeit grassierte die Aidspandemie, und nachdem wir den Oscar für „Arielle“ gewonnen hatten, vertraute Howard mir an, dass er ebenfalls an Aids leide. Wir ignorierten die Tatsache, dass er sehr krank war und stürzten uns – im Wissen, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde – in die Arbeit, beendeten „Biest“ und begannen noch mit „Aladdin“. Dann starb er. Die Filme und die Musik von Disney wurden in dieser Trauerzeit mein sicherer Ort, mein „Safe Space“.
Wie meinen Sie das?
Ich konnte keine Komödien und auch sonst nichts ertragen, aber wieder und wieder schaute ich mir alte und neue Disney-Filme an. Sie boten mir einen Hauch von Trost. Seither bin ich überzeugt, dass diese Filme, dass meine Musik, ein sicherer Ort für die ganze Welt sind. Bei Disney verschmilzt alles. Wenn du diese Filme siehst und diese Songs hörst, ist es nicht von Belang, welcher Kultur du angehörst, wen du liebst, welche Hautfarbe du hast, in welchem Land du lebst. Sie vereinen die Menschen. Und auch deshalb wertschätze ich meine Arbeit extrem und möchte sie absolut nicht missen.
Ein Happy End muss sein
Welche Gefühle wollen Sie mit Ihrer Musik auslösen?
Die kraftvollste Emotion von allen ist die Liebe. Ich sage das nicht, weil ich so ein Schmalzbruder bin, sondern weil das wirklich meine Überzeugung ist. Ich nähere mich den Geschichten also immer aus der Blickrichtung der Liebe, um von dort zu den tiefen Motivationsschichten der Charaktere vorzudringen. Ein, zwei, drei Liebeslieder sind also in jedem Filmscore ein Muss, und es braucht einen Ausgleich zum Herzschmerz, also ein bisschen Humor, was Trauriges, was Absurdes. Wenn wir die dunklen Orte besuchen, wissen wir bei Disney, dass wir von dort auch wieder wegkommen. Ohne ein Happy End geht es also nicht. Innerhalb dieser Strukturen mache ich mich musikalisch auf die Reise. Das ist manchmal analytisch, manchmal sehr kleinteilig und langwierig, am Ende aber folgen die Menschen der Reise, weil sie neugierig sind, wo es hingeht.
Sind Sie ein großer Romantiker?
Ich bin gut darin, die Menschen zu berühren. Aber ob ich ein Romantiker bin? Das fragen Sie besser meine Frau. (lacht) Ich denke, die Musik und die Liebe haben gemeinsam, dass sie rational vielleicht erklärbar sind, aber irrational funktionieren. Wir wissen nicht, warum wir uns ausgerechnet in diesen Menschen verlieben, und wir wissen nicht, warum uns ausgerechnet jetzt dieses Lied so bewegt. Musik kann dich an einen tiefen Ort bringen und dich dort berühren, wo dich sonst nur die Liebe berühren kann.
Filmmelodien haben heute einen schweren Stand
Wie hat sich die Filmmusik verändert, seit Sie aktiv sind?
Heute haben Melodien einen schwereren Stand, sie müssen oftmals hinter Sounds zurückstecken. Ich versuche, mich dem Trend entgegenzustellen. Melodien sind für mich von elementarer Bedeutung.
Walt Disney hat sein Unternehmen, das zum Imperium der Unterhaltungsindustrie wurde, 1923 gegründet. Disney steht bis heute für familienfreundliche Werte, Kontroversen und Provokationen werden nach Möglichkeit vermieden. Würden Sie gerne manchmal künstlerisch etwas mehr riskieren?
Es ist richtig, dass Disney für Tradition und für Wertvorstellungen steht, es ist einerseits konservativ, andererseits aber auch nicht.
Der Konzern tritt öffentlich für die gleichgeschlechtliche Ehe und für Vielfalt in allen Lebenslagen ein. Und in der im Mai ins Kino kommenden Realfilmversion von „Arielle, die Meerjungfrau“, für dessen Musik Sie ebenfalls zuständig waren, wird Arielle von der schwarzen Schauspielerin Halle Bailey gespielt.
Sehen Sie, so ist es. Die gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Haltungen haben sich in 100 Jahren grundlegend geändert, aber das zugrundeliegende Fundament ist gleichgeblieben: Es geht um die großen Gefühle. Der Regisseur Rob Marshall ist so nah und so authentisch an der Originalgeschichte geblieben wie möglich, aber er hat „Arielle“ zugleich wirklich toll geöffnet, hinein in eine neue Zeit.
Wird Disney – und damit Ihre Lieder – auch die nächsten 100 Jahre überdauern?
Warum nicht? Das Fundament ist sehr stark und absolut zeitlos. Ich sehe mich in diesem Zusammenhang als einen Architekten. Ich baue ein Haus aus Musik, in das andere Menschen einziehen und in dem sie heimisch werden. Ich schätze mich glücklich, bin dankbar und demütig, dass die meisten meiner Häuser auch heute noch so gut in Schuss sind, dass die Menschen gerne in ihnen leben. Und ich selbst tue es auch. Mir geht das Herz auf, wenn ich miterlebe, wie die Menschen eins werden mit meinen Songs.
Sie wollten doch eigentlich mal selbst Popstar werden. Bedauern Sie es, keine öffentlichkeitswirksamere Karriere wie Elton John oder Billy Joel hingelegt zu haben?
Nein! Ursprünglich war das mein Ziel, das stimmt. Aber dann lernte ich schon sehr früh im Leben meine Frau Janis kennen. Wir sind jetzt seit 50 Jahren verheiratet, und wir bekamen zwei wundervolle Töchter, die ich gern aufwachsen sehen wollte. Es hätte mir sehr widerstrebt, monatelang auf Tournee und weg von daheim zu sein. Ich fand schnell heraus, dass die Arbeit als Komponist für Filmmusik viel herausfordernder, belohnender und familienfreundlicher ist als das Leben eines rastlosen Rockstars.
Der Mann ist ein Oscarsammler
Der 1949 in New York geborene Alan Menken glänzte schon in der Schulzeit auf dem Klavier und der Geige. Nachdem er in seiner Geburtsstadt das College besucht hatte, arbeitete er als Musiker. Unter anderem war Menken am Lehman-Engel-Musical-Theater tätig. Lehman Engel hatte zahlreiche Broadway-Musicals komponiert und dirigiert.
Seit Mitte der 1980er-Jahre schreibt Menken Musik für Bühne und Film, darunter die Erfolgsproduktionen „Arielle, die Meerjungfrau“, „Die Schöne und das Biest“ und „Aladdin“. Bislang hat der 73-Jährige acht Oscars, einen Tony, einen Emmy sowie elf Grammys gewonnen.
Viele seiner Stücke sind in diesem Jahr live zu hören: Der Walt-Disney-Konzern feiert 2023 sein 100-jähriges Bestehen; musikalischer Höhepunkt ist die Tournee „Disney 100: The Concert“ mit zahlreichen Menken-Hits. Unterstützt von üppiger visueller Untermalung wird das Hollywood Sound Orchestra Erfolgsstücke aus Filmen wie „Die Schöne und das Biest“, „Encanto“ oder „Mary Poppins“ spielen. Auch Höhepunkte aus den mittlerweile zum Konzern gehörenden Studios Pixar, Marvel und Star Wars werden nicht fehlen.
„Disney 100: The Concert“ gastiert unter anderem am 13. April in Kiel, am 26. April in Köln, am 27. April in Hamburg und einen Tag später in Bremen. Am 30. April ist die Show, bei der auch die Musicalstars Anton Zetterholm, Kristina Love und Roberta Valentini auftreten, zu Gast in Chemnitz, am 1. Mai in Leipzig und am 6. Mai in Berlin.