„Adieu Liberté“ – ein Paris im freien Fall
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/3OJP6BN332ZAMPGG2V26NIVXGQ.jpg)
Die Autorin Romy Straßenburg lebt in Paris.
© Quelle: Etienne Laurent
Paris. Die Mauerfall-Party in einer typisch engen Pariser Wohnung immer um den 9. November herum, mit Bananen-Girlanden und der obligatorischen Soljanka ist jedes Jahr der Renner. Wenn schließlich im Morgengrauen auch der letzte Tropfen Wodka und jedes Haribo-Gummibärchen vernichtet ist, haben sich die Freunde der Gastgeberin miteinander vermengt, besoffen, amüsiert.
Die Freunde – das sind die „Femme fatale“ Julie und junge Mütter voller Ausgehsehnsucht, der algerischstämmige Käseverkäufer Mehdi, die für eine internationale Organisation um die Welt jettende Powerfrau Dunja und Pierre, von Frankreich freigekaufte Ex-Geisel syrischer Terroristen. Die Gastgeberin – das ist die Ich-Erzählerin, die mit ihrer „Ossiherkunft“ und den entsprechenden Klischees spielt, indem sie in Zeiten von Präsident Emmanuel Macrons „Diktum des extremen Zentrums“ mit der Soljanka-Kelle in der Hand ironisch den Ex-Kommunismus zelebriert.
Am Anfang steht immer eine „Ostalgie“-Party
In ihrem Buch „Adieu Liberté“ porträtiert die Journalistin Romy Straßenburg die Gäste ihrer – real existierenden – Partys als Vertreter ihrer eigenen Generation, einer Schicksalsgemeinschaft der Mittdreißiger. Die einstmals so freien Erasmus-Studenten befinden sich heute im Spannungsfeld zwischen politisch-gesellschaftlichen Zwängen und persönlichen Lebensentscheidungen, welche notgedrungen Verzicht auf etwas erfordern: Sicherheit spendende Festanstellung oder freiberufliches Prekariat? Geborgenheit versprechende Familiengründung oder aufregende Affären? Gewissheit gibt es nicht in diesen irgendwie improvisierten Leben.
Jedes Kapitel beginnt mit der „Ostalgie“-Fete als rotem Faden, von der ausgehend die gebürtige Berlinerin Straßenburg ihren Blick über Frankreich schweifen lässt und häufig die beiden so ungleichen Hauptstädte miteinander vergleicht. Anekdotenhaft streift sie viele Themen – von der Misere in Schulen der vernachlässigten Banlieues über den Glamour-Hype beim Festival in Cannes bis zum unübertroffenen Baguette. Seit elf Jahren lebt die36-Jährige in der französischen Hauptstadt, wo sie für Presse und Fernsehen arbeitet. Unter dem Namen Minka Schneider leitete sie die deutsche Ausgabe des Satiremagazins „Charlie Hebdo“, welche nach dem brutalen Anschlag 2015 gegründet, nach einem Jahr aber wieder eingestellt wurde. Diese Erfahrung im Herzen von „Charlie“ sowie jene der Pariser Terrorattacken sind zentral in dem Buch sowie für die im Titel angedeutete Botschaft, dass bisherige Freiheiten verschwinden.
Freiheit verabschiedet sich aus Paris
Hier stellt sie eine „emotionale Verbindung“ zwischen ihrer Herkunft und dem heutigen Frankreich her: Während sich in der DDR mit dem Mauerfall eine neue Freiheit ergeben habe, nehme diese Freiheit in Frankreich und Europa gerade wieder ab, sagt Straßenburg. Das zeige sich an den Rufen nach dem Rückzug auf nationale Grenzen, an Soldaten-Patrouillen in den Straßen und verschärften Sicherheitsgesetzen, die dem Staat mehr Kontrolle ermöglichen: „Wir schworen uns nach den Anschlägen, unsere Art zu leben nicht zu ändern, die Terroristen sollten nicht über uns siegen. Aber haben wir nicht doch auf eine Weise nachgegeben?“, fragt sie nachdenklich im Gespräch.
Die politischen Analysen im Buch fallen hingegen flapsiger aus, etwa bei der Beschreibung von Präsident Macron als „Musterschüler, dem die Frenchies den Spitznamen Jupiter verpasst haben. Der ist nicht viel älter als wir und kritisiert ein System, das er selbst am Leben hält!“ Selbstironisch beschreibt sie ihre Clique von Deutschen in Paris, die „dieses Heimatdingsbums“ pflegen, indem sie sich sonntagabends zum Tatort-Schauen treffen. Und die Mauerfall-Partys mit Haribo und Nenas Hit „99 Luftballons“ feiern, aus Sehnsucht nach einem Stück alter Heimat in der neuen.
Romy Straßenburg: Adieu Liberté. Wie mein Frankreich verschwand. Ullstein Buchverlage. 240 Seiten. 18 Euro (D), 18,50 Euro (A)
Von Birgit Holzer / RND