WHO: Herdenimmunität noch keine Lösung
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Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus.
© Quelle: Salvatore Di Nolfi/KEYSTONE/dpa
Sind schon so viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert, dass eine weitere Ausbreitung gestoppt wird? Im Gegenteil, sagt die WHO. Mit hoher Wahrscheinlichkeit seien viel weniger Menschen weltweit gegen das Coronavirus immun als bisher hochgerechnet, vermeldet die WHO. So trügen nur rund zwei bis drei Prozent der Bevölkerung überhaupt Antikörper gegen das Virus in sich.
Das wiederum legt den Schluss nahe, dass sich wohl nur ein Bruchteil der Bevölkerung mit dem Virus infiziert hat. Diese Zahlen führen die Hoffnung ad absurdum, eine rasche Herdenimmunität könne schon bald zu einer Lockerung der öffentlichen Verordnungen und Verbote führen.
Da eine Infektion mit dem Coronavirus häufig mild verläuft, könnten sich viele Menschen angesteckt haben, ohne es zu merken. Wie hoch diese Dunkelziffer ist, lässt sich jedoch nur schwer abschätzen. Die WHO warnt deshalb vor trügerischer Sicherheit. “Die Rücknahme von Restriktionen bedeutet für kein Land das Ende der Epidemie”, sagte der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus.
Experten nehmen an, dass die Pandemie vorbei ist, sobald sich 60 bis 70 Prozent der Menschen mit dem Virus angesteckt haben. Vorausgesetzt, sie sind danach immun gegen eine erneute Infektion. In mehreren Ländern laufen Tests auf Antikörper, die zeigen sollen, wie viele Menschen immun sein könnten. “Die ersten Daten sprechen dafür, dass der Anteil noch sehr gering ist”, sagte Tedros Adhanom Ghebreyesus. “Nicht mehr als zwei bis drei Prozent.” Selbst WHO-Experten hatten mit einem höheren Anteil gerechnet.
WHO-Chef: “Das Schlimmste liegt noch vor uns”
Generaldirektor Ghebreyesus ist der Ansicht, dass in der Corona-Pandemie “das Schlimmste noch vor uns liegt”. Manche Beobachter verweisen darauf, dass sich das Virus in der Zukunft noch deutlich stärker in Afrika ausbreiten könnte, wo die meisten Gesundheitssysteme schwach sind. In einigen Ländern weltweit, in denen sich das Infektionsgeschehen zuletzt abgeschwächt hatte, wurden inzwischen manche Ausgangssperren und Betriebsschließungen wieder gelockert.
Tedros nahm Bezug auf die sogenannte Spanische Grippe: Das neuartige Coronavirus “hat eine sehr gefährliche Kombination, und das geschieht wie die Grippe von 1918, die bis zu 100 Millionen Menschen getötet hat”, sagte er. Heute könne eine solche Krise jedoch verhindert werden. “Lasst uns diese Tragödie verhindern. Es ist ein Virus, das viele Menschen immer noch nicht verstehen.”
Frankreich rechnet mit 3,7 Millionen Infizierten
Unterdessen warnen auch Wissenschaftler in Frankreich vor zu weitgehenden Lockerungen nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen am 11. Mai. In dem Land werden sich den Berechnungen der Forscher zufolge bis dahin 3,7 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben, heißt es in einer Studie. Das entspräche 5,7 Prozent der Bevölkerung und sei nicht ausreichend, um eine zweite Welle der Pandemie zu verhindern. Es müssten etwa 70 Prozent der Bevölkerung immun sein, damit die Epidemie allein durch Immunität kontrolliert werden könnte.
“Unsere Ergebnisse deuten daher stark darauf hin, dass ohne einen Impfstoff die Herdenimmunität allein nicht ausreicht, um eine zweite Welle am Ende der Ausgangsbeschränkungen zu vermeiden. Wirksame Kontrollmaßnahmen müssen über den 11. Mai hinaus aufrechterhalten werden”, schreiben die Autorinnen und Autoren. Den Berechnungen nach werden sich im Großraum Paris etwa 12,3 Prozent und in der an Deutschland grenzenden Region Grand Est 11,8 Prozent der Menschen mit dem Virus infiziert haben. Das sind die beiden am stärksten in Frankreich betroffenen Gebiete.
Bisher mehr als 20.000 Tote in Frankreich
Frankreich ist schwer getroffen von der Coronavirus-Pandemie und zählt mehr als 20.000 Tote. Die strengen Ausgangsbeschränkungen sollen ab dem 11. Mai schrittweise gelockert werden – allerdings machte Premier Édouard Philippe deutlich, dass auch nach diesem Datum das Leben in Frankreich nicht wieder so sein wird wie vor Beginn der Pandemie.
Die Studie wurde vom Institut Pasteur in Zusammenarbeit mit der französischen Gesundheitsagentur Santé Publique France und der Forschungs- und Entwicklungseinrichtung Inserm durchgeführt und basiert auf mathematischen und statistischen Modellen. Das Unsicherheitsintervall mit Blick auf die Berechnungen für ganz Frankreich liegt zwischen 3,5 und 10,3 Prozent.
RND/dpa/dk