Weltärztepräsident Montgomery: “Würden alle immer Masken tragen, müsste dieses Virus eigentlich verschwinden”
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Feiern mit Maske? Alles, was die Ausbreitung des Virus verlangsamt, hilft, sagt Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery. Er sei überzeugt, dass die Pandemie in Deutschland gut ausgebremst wurde – aber bis Ende 2021 omnipräsent sein werde.
© Quelle: dpa/RND Montage Behrens
Wissenschaftler und Politiker rechnen fest damit, dass sich das Coronavirus in den kommenden Monaten wieder verstärkt ausbreiten wird – auch in Deutschland. Anderswo in Europa ist die Lage mit vielen Infektionen, sich füllenden Intensivbetten und vielen Toten Anfang Oktober bereits kritisch: etwa in Frankreich, Spanien oder Tschechien. Einer, der die Gesundheitssysteme und den Verlauf der Pandemie weltweit beobachtet und einschätzt, ist der Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery. Mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat er darüber gesprochen, wieso Partys derzeit fehl am Platz sind, was er von Maßnahmen und der Herbststrategie der Bundesregierung hält und wieso er von der EU und Landesministern in Deutschland enttäuscht ist.
Herr Prof. Montgomery, Sie sind Vorsitzender des Weltärzteverbands und haben einen guten Überblick zum Pandemieverlauf im Ländervergleich. Wo steht Deutschland gerade?
Deutschland steht hervorragend da! Wir haben es in der ersten Welle vermeiden können, dass unser Gesundheitssystem kollabiert. Inzwischen gibt es aber wieder eine langsame Zunahme der Infektionen, auf die derzeit noch ohne große Probleme reagiert werden kann. Irgendwann kommen wir aber in Bereiche, in denen die Kapazitätsgrenzen des Gesundheitswesens überschritten werden. Dann könnte es zu sehr problematischen Zuständen kommen.
Anders als im Frühjahr stehen mehr Intensivbetten und Schutzmaterial zur Verfügung. Sind Kliniken und Arztpraxen besser vorbereitet?
Es gibt mehr Schutzmaterial, ja. Ich befürchte aber, dass wenn bald eine große Zahl an Covid-19-Patienten auf uns zukäme, Betten wieder geschlossen werden müssten, weil das Personal fehlt, um die Kranken zu betreuen. Im Moment sind wir von diesem Szenario noch weit entfernt. Aber: Es gibt bereits heute zu wenig hochqualifiziertes Intensivpersonal und Ärzte in den Kliniken. Das liegt an dem jahrelangen Kaputtsparen der Krankenhäuser.
Pandemie ist nicht mit Impfstoff vorbei
Dieses Virus wird uns mindestens bis Ende 2021 intensiv begleiten.
Ist Deutschland noch an einem Punkt, an dem sich die Virusausbreitung durch individuelles Handeln, also Alltagsmaske tragen und Abstand halten, aufhalten lässt?
Würden alle immer Masken tragen, müsste dieses Virus eigentlich verschwinden, weil es keine Möglichkeit der Übertragung mehr gibt. Aber das ist natürlich eine Illusion. Solange es keine Impfung oder vernünftige Therapie gibt, müssen wir uns schützen und jederzeit so verhalten, als wäre das Virus anwesend. Ein Grundrauschen von Coronavirus-Infektionen wird es immer geben.
Hoffnung machen Impfstoffe, mehrere Kandidaten sind weit fortgeschritten in der Entwicklung. Wann rechnen Sie mit einer Verteilung in der breiten Bevölkerung?
Selbst wenn wir nach der Jahreswende ein Mittel zur Verfügung hätten, müssten wir noch das logistische Problem lösen, wie wir mit dem Impfstoff 446 Millionen EU-Bürger impfen können. Einige dieser Impfstoffe müssen bei minus 80 Grad gekühlt werden – eine Herausforderung. Wenn der Impfstoff zur Verfügung steht, ist also noch lange keine Immunität in der Bevölkerung erreicht. Deshalb glaube ich: Dieses Virus wird uns mindestens bis Ende 2021 intensiv begleiten. Und auch danach wird das Virus nie wieder ganz weggehen – aber mit Impfstoffen und Medikamenten sehr viel besser beherrschbar sein.
Party in Corona-Zeiten?
Ich selbst lebe in Berlin-Mitte und bin entsetzt darüber, wie die Leute so tun, als ob es Corona überhaupt nicht gebe.
Im Moment sind viele Intensivbetten in Deutschland frei. Wieso ist es problematisch, wenn in Berlin junge Menschen ausgelassen feiern, sich vielleicht anstecken, aber nur milde Symptome entwickeln?
25 Prozent der Patienten, die wegen Covid-19 auf der Intensivstation behandelt werden müssen, sterben. Es geht hier also nicht um Partyspaß oder Intensivstation, sondern um Spaß oder Leben. Ich selbst lebe in Berlin-Mitte und bin entsetzt darüber, wie die Leute so tun, als ob es Corona überhaupt nicht gebe. Die jungen Menschen feiern ungeniert, weil sie wissen, dass sie wahrscheinlich nur einen milden Krankheitsverlauf zu befürchten haben. Die Alten und Kranken vergessen sie dabei, obwohl eine Infektion für diese Menschen tödlich verlaufen kann. Ich hoffe, dass das Kabinett noch diese Woche härtere Maßnahmen gegen die Feierei trifft, um vulnerable Personen besser zu schützen.
Gibt es weitere Bereiche, in denen die Bundesregierung Ihrer Ansicht nach mehr tun sollte?
Ich bedaure, dass wir einen Flickenteppich an Maßnahmen haben und in jedem Bundesland unterschiedliche Regeln gelten. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Maskenpflicht. Grundsätzlich sollte gelten, dass die Alltagsmaske überall getragen wird, wo Kontakt zu anderen Menschen besteht und zwei Meter Abstand nicht eingehalten werden können. Auch ich habe am Anfang gesagt, die Masken helfen ja nichts. Aber da es inzwischen Beweise gibt, dass sie andere schützen, habe ich meine Meinung zu Masken radikal geändert.
Coronavirus aufspüren mit Massentests und Fieberambulanzen
Jede Infektion, die wir schnell finden, verhindert Ansteckungen und rettet Leben.
Kontrovers wurde der Einsatz von Masken bei der Öffnung der Schulen diskutiert.
Auch da gilt im Moment in jedem Bundesland etwas anderes. Es braucht meiner Meinung nach eine bundeseinheitliche Strategie für die Schulen zu Masken und auch Unterrichtsabläufen. Die Beurteilung von Maßnahmen bewegt sich immer in einem Viereck zwischen Gesundheitsschutz, sozialpsychologischen Schäden, Wirtschaft und Grundrechtseinschränkungen. Ständig wird neu abgewogen, es gibt nicht die eine magische Weltformel zur Pandemiebekämpfung. Deshalb ist es gut, dass wir das demokratisch diskutieren. Aber bei vielen Landesministern fehlt mir das Verständnis, das gemeinsam Beschlossene auch konsequent umzusetzen.
Was halten Sie von Jens Spahns Herbststrategie mit einem Fokus auf Massentests in Pflegeheimen und zentralen Fieberambulanzen?
Schnelltests sind mit Sicherheit eine große Hilfe, aber noch nicht sicher genug. Außerdem setzt ihr Einsatz medizinische Kenntnisse voraus. Bis die Technik weiter ausgereift ist, sollte der PCR-Test als Goldstandard gelten. Fieberambulanzen halte ich für eine kluge Strategie. Ich kenne viele Menschen, die sich mit Covid-Symptomen testen lassen wollten, aber keinen Hausarzt gefunden haben, der diesen durchführen konnte oder wollte. Bei einem Verdacht sollte sich aber jeder unkompliziert testen lassen können. Jede Infektion, die wir schnell finden, verhindert Ansteckungen und rettet Leben.
Ein Blick in die Glaskugel: Wo sehen Sie Deutschland und Europa in einem Jahr?
Europa hätte bei wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Schutzmaterialien und Pandemieplänen sehr viel hilfreicher sein können. In meinen Augen hat die EU dabei komplett versagt. Ich hoffe, dass ihr das eine Lehre ist und sie sich für kommende Pandemien besser aufstellt. Die deutsche Bundesregierung ist bislang sehr erfolgreich darin, die Bevölkerung mitzunehmen. Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen begriffen haben, dass wir es mit einem todbringenden und gefährlichen Virus zu tun haben, das wir nur gemeinsam bekämpfen können. Diejenigen, die die Existenz von Sars-CoV-2 negieren oder verharmlosen, machen nur einen kleinen Teil aus. Deshalb glaube ich, dass wir in Deutschland auch in Zukunft gut dastehen werden.
Und anderswo?
Die Wahrnehmung des Virus unterscheidet sich stark in den Ländern. Wo Regierungen nicht auf die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen bauen und die Menschen nicht über das Vorgehen informiert werden, gibt es höhere Infektions- und Todeszahlen. Wenn ich beispielsweise beobachte, wie der US-amerikanische Präsident im Moment die Realität ausblendet, kann ich mir als Arzt nur an den Kopf fassen. Wenn die Ideologie die Wissenschaft überwuchert, wird es ganz gefährlich.