“Laisser-faire” trotz vieler Neuinfektionen: Frankreichs Süden zweifelt an der Corona-Politik
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Einwohner Marseilles müssen auch im Freien eine Maske tragen.
© Quelle: Daniel Cole/AP/dpa
Marseille. Auf den ersten Blick erscheinen die neuesten Zahlen aus Frankreich hoch, 8000 bis 9000 neue Infektionen werden pro Tag gemeldet, mehr als noch im Frühjahr. Doch die Lage ist längst nicht so dramatisch wie damals.
Todeszahlen sind deutlich gesunken
Denn die hohen Fallzahlen lassen sich zu einem guten Teil durch die massive Ausweitung von Tests erklären: Gut 900.000 Tests führt Frankreich pro Woche durch, im März waren es nur 20.000 pro Woche gewesen. So werden immer mehr symptomlose Fälle und schwache Verläufe entdeckt, die sonst unbemerkt geblieben wären.
Todesfälle gibt es hingegen kaum noch: Laut der internationalen Datenbank der Johns-Hopkins-Universität wurden an diesem Donnerstag gerade einmal 14 Todesfälle in Frankreich gemeldet. Während der Hochphase des Corona-Ausbruchs im April hatte es dort täglich fast 400 Tote gegeben.
Fast keine Krankenhausbetten für Corona-Patienten mehr
Auch die Lage in den Krankenhäusern ist nicht mit dem Frühjahr zu vergleichen: Damals war es vor allem nahe der Grenzen zu Deutschland und im Großraum Paris zur Überlastung gekommen. Beunruhigt sind Experten dennoch. Denn auch ein nur leichter neuer Anstieg der schweren Verläufe kann für Frankreich schnell zur Herausforderung werden.
Vor allem dann, wenn sich die Fälle dort häufen, wo man nicht darauf vorbereitet ist. So war Südfrankreich im Frühjahr eher schwächer als andere Regionen betroffen. Nun meldete das Universitätskrankenhaus Timone in Marseille vor wenigen Tagen, dass die für Covid-19-Patienten reservierten Plätze schon fast vollständig belegt seien.
Nord- und Südfrankreich streiten um Schuldfrage
Frankreichs Gesundheitssystem ist vergleichsweise schlecht aufgestellt, als Folge jahrzehntelanger Sparmaßnahmen. So wurden seit 2003 gut 70.000 Krankenhausbetten abgeschafft. Für die Behandlung von Corona-Patienten fehlten später die Ressourcen. Dies lässt sich so schnell nicht ändern.
Also bleibt Frankreich nichts anderes übrig, als immer neue Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu erlassen. Dass diese kaum anzuschlagen scheinen, dafür gibt man sich gegenseitig die Schuld. Im Norden schiebt man es gerne der Sorglosigkeit der Südfranzosen in die Schuhe, dass nun vermehrt Fälle an der Mittelmeerküste auftreten. Diese ließen sich zu wenig von Hygiene- und Abstandsregeln beeindrucken.
Im Süden empfindet man diese Deutung als unfair. Auch weil im Sommer massenhaft Franzosen aus dem ganzen Land Urlaub in der Provence und an der Côte d’Azur Urlaub machten und so zur Verbreitung des Virus beigetragen haben dürften. In Marseille drängelten sich die Touristen, vor den Fähren zum Strand bildeten sich Schlangen wie sonst nur vor dem Eiffelturm.
Frankreich verschärft die Corona-Maßnahmen
Zuletzt waren die Neuinfektionen in Frankreich mit dem Coronavirus deutlich angestiegen.
© Quelle: Reuters
Marseille gehört zur “roten Zone”
Richtig sein dürfte aber, dass sich Regierungsmaßnahmen im Süden tendenziell etwas schwerer durchsetzen lassen als vielleicht in Paris. Nach dem Ende der strengen Ausgangssperren kehrte das Leben in Marseille, Frankreich zweitgrößter Stadt, schnell zur Normalität zurück. Das Coronavirus könnte man dort glatt vergessen, wären da nicht die Masken, die momentan selbst im Freien getragen werden müssen. In Bars und Cafés, die wegen des Klimas fast alle Plätze im Freien haben, nimmt es niemand so genau mit dem Abstandsregeln. Auch wenn man nun offiziell in einer “roten Zone” mit erhöhtem Risiko lebt.
In Marseille ist man besonders stolz auf eine entspannte “Laisser-faire”-Lebensweise und Widerstand gegen die Regierung hat ohnehin Tradition. Die Vorgaben aus Paris, die viel strenger als in Deutschland und teilweise fraglich sind, sind hier viele leid.
So durften die Franzosen von Ende März bis Anfang Mai nur für die nötigsten Besorgungen aus dem Haus und sich nur in einem Umkreis von einem Kilometer um dieses herum bewegen. Noch eine Woche nach dem Ende der Ausgangssperren waren in Marseille die Geschäfte geöffnet, aber ohne ersichtlichen Grund die Strände gesperrt. Bei sommerlichen Temperaturen war es verboten, sich am Wasser aufzuhalten. Dann sollten bei durchgängig 30 Grad im Sommer plötzlich Masken im Freien getragen werden – auf die Infektionszahlen hat sich das allerdings nicht spürbar ausgewirkt.
Infektiologe Didier Raoult kritisiert Corona-Maßnahmen scharf
Zum Symbol für Kritik an der offiziellen Linie wurde schnell Didier Raoult, renommierter Professor am Marseiller Krankenhaus Timone. Seit Beginn des Corona-Ausbruchs hatte er so gut wie jeden Einfall Macrons kritisiert. Raoult war gegen strenge Ausgangssperren und hatte stattdessen schon früh mehr Tests gefordert. Von einer Maskenpflicht hält Raoult nichts, der Einsatz sei vor allem bei medizinischem Personal sinnvoll.
Außerdem behandelte er Kranke mit dem Malariamittel Hydroxychloroquin und glaubt trotz zweifelhafter Studienlage weiter an dessen Nutzen. Raoult ist rund um Marseille überaus beliebt und hat im Internet eine riesige Fangemeinde. Während des “confinement” – so heißen die Ausgangssperren – waren dank Raoult viele Südfranzosen überzeugt: Paris wolle ein angeblich wirksames Medikament (Hydroxychloroquin) nicht herausrücken und sperre stattdessen die Bevölkerung ein.
Ärzte aus Toulouse warnen vor Panikmache
Als die Regierung vor Kurzem beschloss, dass Bars und Restaurants in Marseille, nicht aber in Paris nun um 23 Uhr schließen müssen, trat Raoult gemeinsam mit der neu gewählten Bürgermeisterin von Marseille vor die Presse. Paris sei sehr viel eher als rote Zone anzusehen, protestierte Raoult. Und rechnete vor, das es dort viel mehr schwere Verläufe gebe.
Mit einer echten zweiten Welle rechnet Raoult ohnehin nicht. In Videobotschaften und Interviews ruft der Professor regelmäßig zu mehr Gelassenheit auf. Zumindest dabei spricht manches dafür, dass er Recht behalten könnte: In Toulouse meldete nun ein Krankenhaus, es sei überlastet. Allerdings nicht wegen echter Corona-Patienten, sondern wegen unverhältnismäßig vieler Fälle von falschem Verdacht. Die Schulen würden jedes Kind mit Husten und Schnupfen dorthin schicken, wie ein Arzt gegenüber “France Info” berichtete. Die Ärzte hatten daher die offiziellen Stellen gebeten, bitte nicht unnötig Panik zu verbreiten.
RND