Vorsitzender der Divi-Intensivmediziner: „Wir haben keinen Durchbruch bei Medikamenten“
Prof. Uwe Janssens ist Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Er ist zudem Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler.
© Quelle: Foto Studio Strauch Eschweiler
Herr Prof. Janssens, sind Sie überrascht, wie schnell die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland in diesen Tagen nach oben schnellt?
Im Sommer habe ich nicht damit gerechnet. Aber jetzt wird es kälter und feuchter, das Immunsystem agiert wieder anders. Schon Ende Juli haben wir anhand der RKI-Zahlen beobachtet, dass die Infektionszahlen explosionsartig in der Altersgruppe der jungen Menschen nach oben gegangen sind. Das hatte zunächst keine starken Auswirkungen auf die Intensivkapazitäten, weil die Jüngeren prozentual weniger schwer erkranken. Jetzt ziehen aber die Älteren nach, stecken sich beispielsweise bei Familienfeiern an. Das ist besorgniserregend. Dabei könnte auch die Intensivmedizin an ihre Grenzen stoßen.
Weltärztepräsident Montgomery sprach von 20.000 Neuinfektionen am Tag als Grenzwert für einen Lockdown. Ist dieser Wert aussagekräftig für die Beurteilung von Intensivkapazitäten?
Es kommt auf mehrere Faktoren an. Mit Blick auf die aktuelle Zusammensetzung der Erkrankten in Bezug auf ihr Alter wären wir bei 20.000 Neuinfektionen noch in einem sicheren Bereich. Bei aktuellen Hochrechnungen wären das dann rund 2400 Patienten. Aber durch die zunehmende Ausbreitung der Infektion in ältere Bevölkerungsgruppen wird es in einigen Tagen wahrscheinlich wieder zu weitaus mehr schweren und langen Verläufen bei Krankenhaus- beziehungsweise Intensivpflichtigen kommen. Das macht den Krankenhäusern Sorge.
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Exit-Strategien in den Krankenhäusern
Was uns aber fehlt, ist ein Überblick zu den Personalkapazitäten.
Anders als im Frühjahr zirkuliert das Virus also mehr unter jüngeren Menschen. Birgt das neue Risiken für die Kliniken?
Es ist um einiges wahrscheinlicher, dass es zu Ausbrüchen in der Pflegeversorgung kommt. Das medizinische Personal steckt sich zwar nicht mehr auf der Station an, weil die Infektionsschutzmaßnahmen eingehalten werden. Draußen aber mag das anders sein, weil es viel mehr Risikokontakte gibt als im Frühjahr. Auch deshalb ist es so wichtig, dass alle systemrelevanten Mitarbeitenden im Gesundheitswesen die eigenen Kontakte im Privaten auf ein Minimum reduzieren. Das ist im Moment die einzige Chance.
Was sollte die Politik jetzt tun, um die Virusausbreitung zu verringern?
Noch besteht Hoffnung, die Kurve abzuflachen. Die Politik sollte deshalb endlich einheitlich geltende Regeln in Deutschland schaffen. Nicht mehr nach dem Motto: Ein Fußballspiel hier, ein ausgewähltes Konzert da. Diese Heterogenität hat vielen Menschen das Gefühl vermittelt, dass eigentlich keiner mehr so genau Bescheid weiß, was es zur Pandemiebekämpfung braucht. Mir macht nicht die Corona-Müdigkeit Angst, sondern die Polarisierung in der Gesellschaft.
Bundeskanzlerin Merkel spricht von einer sehr ernsten Lage. Sind die Kliniken auf schnell steigende Infektionszahlen vorbereitet?
Die Kliniken deutschlandweit haben alle Exit-Strategien, wie sie relativ schnell in einen Krisenmodus umschalten können. Konkret bedeutet das: Überprüfen, welche Operationen bei anderen Erkrankungen verschiebbar sind und dadurch personelle Kapazitäten für Covid-19-Patienten frei werden. Ein Unterschied zur ersten Welle besteht aber: Der finanzielle Ausgleich, der den Kliniken für das Absagen ausgesuchter Eingriffe und leerstehender Betten gewährt wurde, ist derzeit nicht vorgesehen. Das bedeutet für jedes Krankenhaus gerade jetzt eine unzumutbare Unsicherheit. Hier muss die Politik jetzt zügig handeln.
Über Betten und Beatmungsgeräte haben wir mit einem im Frühjahr aufgebauten deutschlandweiten Register inzwischen einen guten Überblick. Was uns aber fehlt, ist ein Überblick zu den Personalkapazitäten. Das macht mir zusätzliche Sorgen.
Es gibt also ein Bett, ein Beatmungsgerät – aber womöglich kein Personal für den Covid-19- Patienten?
Der Pflegekräftemangel spielt eine ganz entscheidende Rolle. Das ist bislang zu wenig erwähnt beziehungsweise angesichts der sich überschlagenden Ereignisse aus dem Auge verloren worden. Einen Mangel gibt es schon seit Jahren. Durch die Corona-Pandemie und die jetzt drohende oder schon laufende zweite Welle entsteht jetzt plötzlich ein Brennglas. In der ersten Pandemiephase musste alles noch ganz schnell und improvisiert laufen.
Die zweite Welle offenbart jetzt die langfristigen Versäumnisse. Akut haben die Kliniken nur zwei Möglichkeiten, um die Pflegenden zu entlasten: Andere Operationen verschieben und dadurch mehr Personal zur Verfügung haben. Oder Medizinstudenten oder Mitarbeitende aus anderen Bereichen eines Krankenhauses durch Schulungen unterstützend tätig werden lassen.
Konzept für Triage-Entscheidung in Deutschland vorhanden
Die Diskussion darüber, ob die Älteren überhaupt noch behandelt werden sollten, ist absolut menschenverachtend.
In Frankreich und Belgien müssen Mediziner wegen fehlender Kapazitäten bereits entscheiden, welche Patienten weiterbehandelt werden.
Die Diskussion darüber, ob die Älteren überhaupt noch behandelt werden sollten, ist absolut menschenverachtend. In Deutschland gibt es deshalb seit März eine Triage-Leitlinie, die vorsieht, dass es bei einer notwendig werdenden Priorisierung nicht um die Frage des chronologischen Alters gehen sollte, sondern eine Gesamtschau der Befunde. Der Grundgedanke dahinter: Das Gesamtbild eines Patienten ist entscheidend und nicht der Blick auf das Geburtsjahr oder andere Einzelfaktoren: Wer hat den meisten Nutzen von einer Behandlung? Eine außerordentlich schwierige Entscheidung, die gründlich in einem Team gemeinsam unter Einbeziehung von Patienten und Angehörigen erarbeitet und getroffen wird.
Allerdings sollte der persönliche Umgang mit der eigenen Sterblichkeit mehr in den Fokus gerückt werden. Es empfiehlt sich, gerade in der Pandemie mittels Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ein persönlich gewünschtes Vorgehen für den Fall der Fälle festzulegen – und damit die Ärzte und Angehörigen bei schwierigen Entscheidungen zu entlasten.
Corona-Medikamente stehen noch ganz am Anfang
Machen denn Medikamente gegen Covid-19 inzwischen mehr Hoffnung?
Wir haben keinen Durchbruch bei Medikamenten. Antigentest, zwei Tabletten schlucken, Viren tot – so einfach ist das nicht und wird es höchstwahrscheinlich niemals sein. Mit Remdesivir ist in der EU eine zweifelhafte Substanz zugelassen, die womöglich nur in der Frühphase der Infektion etwas bringt. Ob das wirklich hilft, wird derzeit von der Weltgesundheitsorganisation geprüft.
Nur von Dexamethason sind Intensivmediziner hierzulande überzeugt, das wird routinemäßig eingesetzt, um die Sterblichkeit bei Schwerkranken zu senken. Dazu kommen noch Blutverdünner – und dann sind wir mit unserem medikamentösen Latein auch schon am Ende.
Könnte in den nächsten Monaten ein vielversprechendes Heilmittel zugelassen werden?
Das glaube ich nicht. Zwar gibt es wie nie zuvor eine geballte Anstrengung in der internationalen Forschung. Ein vielversprechender Ansatz ist zum Beispiel die Gabe monoklonaler Antikörper, wie sie Donald Trump verabreicht bekommen hat. Wahrscheinlich können dadurch in der Frühphase der Erkrankung Viren abgefangen werden.
Der US-Präsident war auch begeistert davon. Er hat dabei aber vergessen, dass so ein Mittel nicht mal eben so Hunderten Millionen von Menschen verabreicht werden kann. Dafür ist es viel zu teuer und aufwendig in der Herstellung. Das Einzige, was also weiterhin wirklich hilft, sind die Infektionsschutzmaßnahmen: also Abstand halten, Hygieneregeln, Maske tragen, Lüften.