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Virologen kritisieren Aufschub neuer Corona-Regeln
„Verschenkte Zeit“: Virologen kritisieren Aufschub neuer Corona-Regeln
- Dass die aktuell herrschenden Corona-Maßnahmen nicht weiter verschärft wurden, können viele Virologen und Gesundheitsexperten nicht nachvollziehen.
- Zwar gehe der Appell der Bundeskanzlerin Merkel in eine gute Richtung, aber auch von verschenkten Gelegenheiten und ablaufender Zeit ist die Rede.
- Am 25. November soll es neue Beratungen geben – und dann eventuell auch weitere rechtlich bindende Einschränkungen.
Hannover. Die erneuten Corona-Beratungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten haben keine neuen Maßnahmen zur Folge. Bund und Länder haben es zunächst dabei belassen, Empfehlungen für verschärfte Kontaktbeschränkungen zu geben. In der kommenden Woche soll dann erneut beraten werden. Für Virologen und Gesundheitsexperten sind die Ergebnisse zu kurz gegriffen.

Richtige Stellschrauben, aber reicht das aus?
„Vieles von dem, was gestern besprochen und beschlossen wurde, geht in eine sehr gute Richtung“, sagte der Virologe Marco Binder gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Der Wissenschaftler forscht zu Sars-CoV-2 am Deutschen Krebsforschungszentrum. „Die in meinen Augen relevantesten Stellschrauben wurden zumindest angesprochen, wenngleich noch nicht in verpflichtende Verordnungen gegossen.“ Es sei beispielsweise wichtig, die Kontakte auf eine konstante Kerngruppe zu beschränken, idealerweise auf eben nur einen weiteren Haushalt. Binder begrüßt auch den Vorstoß der Bundesregierung, Kosten für FFP2-Masken für Personen aus dem Risikospektrum, also ältere Menschen oder Menschen mit gewissen Vorerkrankungen, zu übernehmen.
Die aktuellen Zahlen des RKI deuteten bereits auf ein sich abschwächendes Wachstum hin. „Wir sind also auf dem richtigen Weg“, sagt Binder. Um die Inzidenz allerdings tatsächlich wieder auf ein Maß zu bringen, das den Gesundheitsämtern die weitestgehende Kontrolle über das Infektionsgeschehen zurückgeben würde, müssten die Anstrengungen noch verstärkt werden. „Sollte sich das nicht abzeichnen, wird es nächste Woche tatsächlich höchste Zeit, hier mit verschärften Vorschriften nachzuhelfen."
Es bestehe sonst die Gefahr, dass die Anstrengungen der ersten Novemberhälfte umsonst gewesen sind. Noch sei die Chance gegeben, das Virus empfindlich auszubremsen. „Wenn wir uns jetzt noch einmal alle Mühe geben, können wir es schaffen, dass die Adventszeit wieder etwas entspannter wird“, sagt Binder. Dafür müssten sich jetzt alle aktiv noch ein Stück weiter einschränken.
„Keine gute Idee“, Pandemie abzuwarten
Die Virologin Isabella Eckerle von der Universität Genf hält es für riskant, weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus zurückzustellen. „Ein zögerliches Vorgehen beziehungsweise ein Abwarten in einer Pandemie ist meistens keine gute Idee“, sagte Eckerle nach den Beratungen von Bund und Ländern am späten Montagabend in den ARD-„Tagesthemen“. „Die Zahlen haben sich zwar verlangsamt, aber sie steigen immer noch an.“
Solange die Entwicklung noch in die falsche Richtung gehe, sei klar, dass die Einschränkungen zumindest aufrechterhalten, wahrscheinlich aber verschärft werden müssten. „Wenn man die Infektionszahlen wirklich runterbekommen möchte, die Kliniken entlasten, in der Gesellschaft ein bisschen mehr Normalität haben möchte, dann wäre es besser gewesen, schon jetzt damit anzufangen“, betonte Eckerle. Sie verwies darauf, dass man die positiven Effekte von Einschränkungen erst mit Zeitverzögerung sehe. „Das ist sicher noch einmal ein bisschen Zeit, die man da verschenkt hat.“
Stürmer: Zeit der Appelle ist abgelaufen
Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer spricht im Kampf gegen das Coronavirus in Deutschland von verlorener wichtiger Zeit – vor allem im Blick auf die Intensivstationen: „Jede Woche, die wir verschenken, werden wir etwa bei der Belegung der Intensivbetten spüren“, sagte der Laborleiter und Dozent. Es sei nicht mehr die Zeit, die Pandemie abzuwarten. „Ich hätte mir gewünscht, dass der Gesetzgeber mehr unternimmt, um private Kontakte zu beschränken“, so Stürmer. Die Zeit der Appelle und der Freiwilligkeit sei abgelaufen.
Der Präsident des Robert-Koch-Instituts mahnte zum Durchhalten. Es gehe noch um wenige Monate, dann gebe es eine Perspektive in der Impfstoffforschung, sagte der RKI-Präsident am Montagabend bei einer Veranstaltung der Universität Gießen. Die Zahl der Intensivpatienten werde seiner Einschätzung nach noch bis Ende des Monats steigen. Er sei jedoch „sehr optimistisch“, dass es in den nächsten Monaten noch bessere Erfolge bei der Behandlung von Covid-19 geben werde. „Da wurde viel gelernt.“
Lauterbach: „verlorene Gelegenheit“
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach kritisiert die Beratungen als „eine verlorene Gelegenheit“. Am Dienstag im Deutschlandfunk sagte Lauterbach, man verspiele mit dem Aufschub wertvolle Zeit. Die Beschlussvorlage sei vielversprechend gewesen. Davon sei nur leider das meiste nicht beschlossen worden. Die Ergebnisse seien weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben, so der Politiker. Auf Twitter sagte Lauterbach außerdem vorher: „In zehn Tagen werden die Maßnahmen umso härter ausfallen müssen.“
Nach einer Videokonferenz riefen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten die Bürger am Montagabend dringend dazu auf, ihre privaten Kontakte noch einmal deutlich zu reduzieren. Am 25. November soll es zudem weitere Beratungen und – wenn die Zahl der Infizierten und schwer Erkrankten bis dahin nicht stark gesunken ist – womöglich auch weitere rechtlich bindende Einschränkungen geben.
RND/dpa/ame/ sbu