Unter Erschöpften: Wenn die Seele aus dem Takt ist
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© Quelle: George Peters/iStockphoto/Getty Images
Hüftoperation oder Bandscheibenvorfall? Da ist eine Reha doch sehr zu empfehlen. Und nach einer gerade überstandenen Krebserkrankung ist eine medizinische Wiederaufpäppelung beinahe Routine. Aber wenn es gar nicht nur um den Körper geht, sondern mindestens ebenso sehr um die Seele? Wenn man keine Krücken benötigt und auch keine Chemotherapie? Wenn es sich um eine psychosomatische Reha handelt?
Dann fallen die Reaktionen unterschiedlich aus. Mal sieht man in erschrockene Gesichter, als würden sich gleich die Pforten der Psychiatrie hinter einem auf unbestimmte Zeit schließen. Mal grinst einem jemand entgegen: „Einen schönen Urlaub wünsche ich!“ Oder: „Für mich wäre Töpfern nichts.“ Wieder andere rufen fröhlich hinterher: „Hoffentlich findest du einen Kurschatten.“ Oder man hört den Satz: „Wenn du weg bist, müssen andere deine Arbeit übernehmen.“ Und dann den entschuldigenden Zusatz: „Es sind einfach zu wenige Leute da.“
Oft scheint Unsicherheit mitzuschwingen. Vielleicht auch eine unausgesprochene Befürchtung: Wäre so eine ominöse psychosomatische Reha womöglich eine Option für einen selbst? Anders gefragt: Überspielt da womöglich jemand seine eigene Müdigkeit, die er sich keinesfalls eingestehen möchte?
Eine Reha ist keine Kur
Eines lernt derjenige schnell, der eine Reha vor sich hat: Der Begriff „Kur“ ist tunlichst zu vermeiden. Das gilt erst recht, wenn es einen in ein Kurbad verschlägt. Das Mineralwässerchen im Kurpark mag dem Darmtrakt bekömmlich sein, hat aber nichts mit der Therapie zu tun.
Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff Psychosomatik ist vage. Dahinter verbirgt sich ein interdisziplinärer Ansatz, bei dem der ganze Mensch in den Blick genommen wird – inklusive psychischer und sozialer Probleme.
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Wie hatte der Hausarzt doch gesagt? „Ihren Rehaantrag fülle ich gern aus, aber die Chancen sind eher schlecht, Sie hatten ja nicht mal einen Herzinfarkt.“ Dann suchte er nach knackigen Symptombeschreibungen wie „Überforderungsgefühle“ oder „nächtliche Panikattacken“.
Wochen vergingen, bis die Deutsche Rentenversicherung mitteilte, dass sie den Antrag nun bearbeite. Dann jedoch dauerte die Antwort nur wenige Tage: „Auf Ihren Antrag bewilligen wir Ihnen eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Die Leistung dauert fünf Wochen.“
Ein kleiner Schock: Wieso denn gleich fünf Wochen? Ging es einem wirklich so schlecht? Hatte man nicht immer seinen Job erledigt? Hatte man seinen Beruf nicht stets als Lebensaufgabe betrachtet?
Gemeckert wird viel
Der Aufenthaltsort für die nächsten Wochen ist ein grauer Betonklotz. Vor der Tür stehen Raucher. Durch Zigarettenqualm hindurch führt der Weg hinein. Was immer hier behandelt wird: Suchtverhalten steht jedenfalls nicht oben auf der Agenda.
Drinnen ist in Corona-Zeiten alles auf Abstand getrimmt. Auf den Zweiertischen im Essenssaal thronen trennende Plastikscheiben. Es dauert ein wenig, bis man Anschluss findet – doch erkennt bald jeder, dass geteiltes Leid halbes Leid ist. Zudem meckert es sich in der Gruppe besser. Und gemeckert wird viel.
Alles ist so, wie es die Bezeichnung über dem Eingang verheißt: „Klinik“ ist dort zu lesen. Kuschelecken sind kaum zu finden. In manchem Aufenthaltsraum brummt ein Kühlaggregat. Der Fernsehraum dient tagsüber als Treffpunkt für die „Bezugsgruppen“.
Am Abend herrscht Stille auf den langen Gängen, als sei das hier Jack Nicholsons menschenleeres Overlook-Hotel im Gruselfilm „Shining“. Einzelne Grüpplein treffen sich an der Tischtennisplatte oder zum Kartenspielen. Dann wirkt die Szenerie wie in einem einsamen Raumschiff, unterwegs zu einem weit entfernten Planeten. Offenbar hat jemand vergessen, diese Menschen auf ihrer langen Reise in den Kälteschlaf zu versetzen.
Am Rande der Kapazitäten
Zugewandt sind die Mitarbeiter, die sich von morgens bis abends um einen kümmern, aber ebenso fällt auf: Viele scheinen beinahe ebenso erschöpft zu sein wie die Patientinnen und Patienten. Das Klinikpersonal, das die Ermüdeten wieder fit fürs Arbeitsleben machen soll, operiert selbst am Rande seiner Kapazitäten.
Manche Putzfrau gerät schon außer sich, sobald ihre nach Minuten getakteten Arbeitsabläufe gestört werden. Nicht bei jedem Essen reicht das Kantinenteam. Die ein oder andere Psychologin hat gerade erst den Urlaub des Vorjahres abgebaut. Einzelgespräche sind auf ein wenig ergiebiges Minimum reduziert.
So eine Klinik ist eine aufs Durchschleusen von möglichst vielen Patienten ausgerichtete Fabrik, in der dem Einzelnen nach seinen individuellen Bedürfnissen geholfen werden soll. Dieser Widerspruch ist kaum aufzulösen. Immer wieder mal gehen Bürokratie und Routine vor. Für ein paar Wochen werden sogar längst eingeladene Neuzugänge kurzfristig wieder ausgeladen. Es fehlt einfach an Betreuungskräften.
Covid-19-Patienten leiden an schweren Spätfolgen
Bei immer mehr Menschen, die mit dem Coronavirus infiziert waren, treten nun Langzeitfolgen auf. Die Patienten klagen unter anderem über neurologische Folgen.
© Quelle: Reuters
Und dann sitzt man in seiner Bezugsgruppe. Ein Häuflein einander wildfremder Menschen begegnet sich im Stühlerund. Auf Pappschildern am Boden hat jeder seinen Vornamen geschrieben.
Keine Ahnung, was diese Menschen denken. In diesem Kreis soll erzählt werden, wovon schon unter Freunden ungern gesprochen wird. Von Schlaflosigkeit und innerer Unruhe. Von schwindendem Selbstvertrauen und sinkender Antriebskraft. Von Herzrasen und gestiegenem Blutdruck. Den meisten fällt es bald erstaunlich leicht zu reden.
Betroffene in jedem Beruf
In den nächsten Wochen schält sich mehr noch bei Gesprächen auf den Gängen heraus, wen es hierher verschlagen hat. Da ist der Informatiker, Mitte 20, der einen Tag vor der Reha noch am Schreibtisch saß. Da ist der verbitterte Angestellte, Anfang 60, der drei Jahrzehnte in der Firma gearbeitet hat, bis er nicht mehr konnte. Da ist eine junge Frau, die überall aneckt und nur hier ist, weil ihre Krankenkasse sie dazu gedrängt hat.
Da ist die Putzfrau, die ihren Job stets eine Stunde früher anfing, als es ihr Vertrag vorsah, weil sie sonst befürchtete, mit der Arbeit nicht fertig zu werden. Da ist die Krankenschwester, die von düstersten Corona-Tagen berichtet, als die Toten auf den Flur geschoben wurden. Und da ist der Autohausmitarbeiter, der dem Druck der Chefs nichts mehr entgegenzusetzen wusste und sich plötzlich nicht mehr traute, seine Wohnung zu verlassen.
Unterschiedlicher können die beruflichen und auch sozialen Hintergründe kaum sein. Dazu kommen tragische Geschichten von familiärem Leid, sexuellem Missbrauch und schwerer Krankheit. Doch gibt es eine Gemeinsamkeit: All diese Menschen haben nicht mehr reibungslos funktioniert – oder sie befürchteten, nicht mehr zu funktionieren.
Die meisten hier kennen die Zwänge, egal, ob aus Job oder Privatleben, die da lauten: „Sei perfekt!“ oder „Sei beliebt!“ oder „Sei stark!“. Übermächtig wurden diese Anforderungen, die andere an einen oder die man auch an sich selbst gestellt hatte.
Müdigkeit, Energiemangel, Reizbarkeit
Offenbar geht es vielen so, wenn die Informationen stimmen, die man an die Hand bekommt: „Schätzungsweise 15 Prozent aller Menschen machen irgendwann in ihrem Leben eine Angsterkrankung durch. Wahrscheinlich leiden in diesem Augenblick etwa eine Million Menschen in unserem Land an einer Angststörung.“
Die hier präsentierten Symptome auf der Liste für Depressionen dürften vielen bekannt vorkommen, gerade in Corona-Zeiten: Müdigkeit, Energiemangel, Reizbarkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen oder auch Appetitlosigkeit, sexuelle Unlust. Ja, ist die halbe Gesellschaft krank?
Das Ziel einer Reha ist in den Richtlinien der Rentenversicherung definiert. Man kann es auf der Website nachlesen: „Sie sollen wieder an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren oder in einen anderen Beruf einsteigen können.“ Es geht nicht zuerst darum, ob und wie sich die Bedingungen am Arbeitsplatz ändern ließen.
Einige sind hier, die nur ein Ziel haben: Sie wollen endlich ihren Rentenbescheid bekommen. Andere laufen weinend durch die Gänge, weil sie nicht „aussortiert“ werden wollen. Sie schämen sich dafür, nicht mehr zu können.
Psychologische Hilfe per Nachsorge-App
Arbeit ist mehr als Broterwerb. Es geht auch darum, einen Platz in einer Gesellschaft zu behaupten, die sich über Leistung definiert. Die allseits propagierte Vorstellung von einer erfüllten Arbeit bis 67 erscheint in diesem Umfeld als ein Wahn von Rentenberechnern und Leistungsapologeten.
In fünf Wochen – es können auch leicht sechs oder sieben draus werden – fällt in Absprache mit Ärzten und Ärztinnen, Psychologen und Psychologinnen die Entscheidung, wie es danach weitergeht: zurück zur Arbeit, (wieder) in die Krankschreibung, vielleicht auch direkt in Rente. Psychologische Hilfe für danach wird angeboten – per Nachsorge-App oder auch in Einzel- und Gesprächsgruppen am Heimatort. Vorausgesetzt, es sind Plätze frei. Niemand sollte darauf bauen.
Schon vor dem Wiederauftauchen aus dem Reharaumschiff tröpfeln Nachrichten herein. Ehemalige Mitpatienten melden sich mit Nachrichten wie dieser: „Der Alltag hat mich wieder“ – Kollegen krank oder im Urlaub, Stellen immer noch unbesetzt. „Der ganz normale Wahnsinn.“