Stiko-Chef Mertens: „Die Kommunikation ist das zentrale Problem in der Pandemie“

Impflücken bei den 18- bis 59-Jährigen, Booster-Lücken bei den Älteren: Das sei aktuell das Hauptproblem, sagt Stiko-Chef Thomas Mertens.

Impflücken bei den 18- bis 59-Jährigen, Booster-Lücken bei den Älteren: Das sei aktuell das Hauptproblem, sagt Stiko-Chef Thomas Mertens.

Der Ständigen Impfkommission, kurz Stiko, kommt in Zeiten der Coronavirus-Pandemie eine besondere Verantwortung zu. Der Virologe und Infektionsepidemiologe Thomas Mertens ist der Vorsitzende des 18 Mitglieder zählenden Gremiums, das die Impfempfehlungen zu den Covid-Impfstoffen erarbeitet.

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Herr Prof. Mertens, wie geht es Ihnen gerade als Stiko-Chef?

Es betrübt mich, dass es vielfach offensichtlich nicht gut gelingt, die relevanten Informationen den Menschen zu geben, die ihnen bei der Entscheidung für oder gegen eine Impfung helfen. Das zeigt die zu niedrige Impfquote bei uns. Rund 15 Millionen Menschen haben keinen Impfschutz, und können logischerweise auch nicht geboostert werden. Das hat uns in die derzeitige Lage gebracht.

Der Druck auf Ihr Gremium ist angesichts steigender Infektionszahlen besonders hoch. Die Kritik: Die Empfehlung, dass sich alle über 18-Jährigen boostern lassen können, sei zu spät gekommen.

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Das ist so nicht korrekt. Es wird immer von Israel geredet als Beispiel dafür, dass es schneller gehen kann. Aber das Land hat seine Booster-Kampagne auch erst auf die Jüngeren ausgeweitet, als bereits 60 Prozent der Älteren geimpft waren. In Deutschland haben wir immer noch einen viel zu kleinen Teil der über 60-Jährigen und der Menschen mit Immunschwäche geboostert.

Thomas Mertens ist Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko).

Thomas Mertens ist Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko).

Woran liegt das?

Berlin war im Herbst das einzige Bundesland, das diese Gruppe rasch individuell angeschrieben hat. Viele Menschen wussten gar nicht so genau, dass sie sich schnell boostern lassen sollten, obwohl die Empfehlung schon ausgesprochen war. Wir müssen deshalb gerade wegen der aktuellen Notlage dafür sorgen, dass möglichst schnell möglichst viele dieser Menschen mit einem hohen Risiko für einen schweren Verlauf geschützt sind. Deren Impfdurchbrüche sind neben den ungeimpften Menschen das Problem, weshalb sich die Intensivstationen füllen. Eine Priorisierung nach absteigendem Alter bleibt in den hausärztlichen Praxen notwendig und es braucht mobile Impfteams.

Booster-Impfung für alle notwendig

Berechnungen zeigen, dass wir durch die Booster-Kampagne keine Chance haben, kurzfristig das Infektionsgeschehen eindämmen zu können.

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Seit Donnerstag gibt es nun die Empfehlung für alle über 18-Jährigen – wenn sechs Monate nach der letzten Impfung verstrichen sind. Wird das die vierte Welle eindämmen?

Natürlich sollen sich alle Menschen in den kommenden Monaten boostern lassen, um den persönlichen Schutz vor Erkrankung und Tod zu erhöhen und die Virusausbreitung zu hemmen – wie Gesundheitsminister Spahn es verkündet hat – und die Stiko-Empfehlung sagt. Berechnungen zeigen aber, dass wir durch die Booster-Kampagne keine Chance haben, kurzfristig das Infektionsgeschehen eindämmen zu können. Das wird langfristig helfen. Es ist damit zu rechnen, dass es auch im Winter 2022 eine fünfte Welle geben wird. Wie stark diese ausfällt, hängt maßgeblich davon ab, wie viele Menschen sich impfen und boostern lassen. Das hilft aber nicht mehr akut. Im Augenblick ist es leider so, dass Ältere erst im Dezember oder Januar einen Boostertermin bekommen, weil die hausärztlichen Praxen teils keine Termine frei haben.

Die Infrastruktur gibt eine großangelegte Booster-Kampagne für Geimpfte bereits fünf Monate nach der Grundimmunisierung für alle also gar nicht her?

Nein, das würde zum Kollaps führen. Berechnungen zeigen sehr klar, dass die Kapazitäten unseres Impfsystems es im Augenblick nicht hergeben, allen über 18-Jährigen in Deutschland nach fünf Monaten eine Booster-Impfung anzubieten. Das ist das Problem. Immunologisch spricht hingegen nichts gegen eine Auffrischung nach vier bis fünf Monaten. Das schadet dem Körper nicht. Es gibt bei Immungesunden unter 70-Jährigen aber auch keinen Grund zu besonderer Eile: Der Schutz vor Infektion nimmt zwar ab, der Schutz vor schwerer Erkrankung ist aber auch nach sechs Monaten noch recht gut.

Viele Menschen hat es trotzdem verwirrt, dass Gesundheitsminister Spahn plötzlich sagte, alle könnten sich ab sofort boostern lassen, die Stiko aber vorerst weiter betonte: Bitte erst die Älteren.

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Ich kann verstehen, dass das bei den Menschen zu Verwirrung führt. Ich kann auch nachvollziehen, dass das Durcheinander der Informationen überfordern kann. Das zeigt, dass die Kommunikation das zentrale Problem in der Pandemie ist. Aber allgemeine Information ist nicht Aufgabe der Stiko, sondern des RKI, von Gesundheitsministerium und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Wir hingegen sind zuständig für die Aktualisierung der fachlichen Impfempfehlungen, die vor allem für die Hausärztinnen und Hausärzte bestimmt sind. Ja, die Älteren sollen besonders rasch geimpft werden.

Geht etwas schief, hat das enorme Konsequenzen. Will man also möglichst viel Sicherheit oder große Schnelligkeit?

RKI-Chef Wieler tritt in dieser Pandemie einmal wöchentlich vor die Kamera und erklärt das Infektionsgeschehen. Wäre es denkbar, dass auch die Stiko regelmäßig öffentlichkeitswirksam über den Stand der Dinge bei den Impfungen berichtet?

Das ist aktuell nicht leistbar. Die Ausstattung der Stiko ist für solche Extremsituationen nicht ausreichend. Es bräuchte Personal und Geld für die allgemeine öffentlichkeitswirksame Aufklärung.

Was ist aus Ihrer Sicht die zentrale Aufgabe der Stiko?

Unsere Aufgabe ist es nicht, einfach etwas in die Welt zu posaunen, sondern auf der Basis aller wissenschaftlicher Erkenntnisse Nutzen und Risiken der Impfung abzuwägen und zu prüfen. Auf dieser Grundlage sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es sinnvoll war, die für schwere Erkrankung gefährdeten Menschen zuerst zu boostern. Langfristig aber sollen natürlich alle aufgefrischt werden. Man muss auch beachten: Auf Grundlage einer Empfehlung werden Millionen von Menschen geimpft. Geht etwas schief, hat das enorme Konsequenzen. Will man also möglichst viel Sicherheit oder große Schnelligkeit?

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In der aktuellen Situation ist es auf jeden Fall relevant, dass Dinge schnell entschieden werden.

Spätestens im Juli lagen – auch der Politik – Modellierungen vom RKI vor, die klar gezeigt haben, wie stark die Winterwelle ausfällt, wenn sich nicht mehr Menschen aus der Gruppe der 18- bis 59-Jährigen impfen und Ältere boostern lassen. Das war und ist das Hauptproblem. Statt alle Energie in die Impfkampagne zu stecken, wird gerade dann aber schon wieder über etwas wenig Zielführendes diskutiert: die Impfung aller unter 12-Jährigen.

Kinder unter 12 Jahren: Impfentscheidung in Aussicht

Wie meinen Sie das?

Auch da verweisen Kritiker auf das Ausland. Es ist aber auch dort keine Lösung zum schnellen Eindämmen der vierten Welle. Der Impfstoff für die Jüngeren ist in der EU auch noch nicht zugelassen – was für Deutschland ein Problem ist. Dann haftet der Arzt oder die Ärztin dafür, wenn trotzdem geimpft wird. In Österreich hat man das zum Beispiel anders geregelt – da hat die Regierung die Haftung übernommen. Das gibt es in Deutschland so aber nicht. Es ist auch fraglich, ob man das so machen sollte. Die Kinder mit Covid-19 belasten nicht die Krankenhäuser und erkranken glücklicherweise nur sehr selten schwer. Ich kann natürlich verstehen, dass Eltern in Sorge sind, weil sich das eigene Kind infizieren könnte. Aber das Gesundheitssystem wird dadurch nicht entlastet.

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Wann werden sich denn hierzulande auch unter 12-Jährige impfen lassen können?

Bisher haben wir nur die Daten aus den Zulassungsstudien und einzelne Informationen aus Israel und USA. Es gibt noch keine validen Auswertungen dazu, welche möglichen Nebenwirkungen es gibt, und ob infolge der Impfungen Fälle von Myokarditis aufgetreten sind. Darüber müssen wir in der Stiko beraten. Eine Entscheidung der EMA über die Zulassung ist in der nächsten Woche zu erwarten. Eine Empfehlung der Stiko wird es aber nicht sofort geben. Das ist nicht zu leisten. Wir werden versuchen, so schnell wie möglich nach Datenlage zu entscheiden. Aber noch einmal: Das entscheidet nicht über den Verlauf der vierten Welle.

Prognosen sind schwierig. Aber wann ist die Pandemie nun eigentlich wirklich vorbei?

Was in Deutschland nicht erwähnt wird, ist die globale Perspektive. Am Ende fehlt bei nicht zwingend notwendigen Impfungen wieder anderswo in der Welt Impfstoff. In diesem Winter ist auf jeden Fall noch nicht zu erwarten, dass alle Menschen genesen oder geimpft sind. Erst dann entsteht bei uns eine Grundimmunität in der Bevölkerung. Das wird irgendwann in den nächsten Jahren der Fall sein. Das liegt am Virus – und daran, wie viele Menschen sich impfen lassen. Dann werden wir uns trotzdem ab und an mit Sars-CoV-2 infizieren. Der Immunschutz wird wahrscheinlich auch nach der dritten Impfung irgendwann wieder abnehmen. Aber werden wir alle Menschen dauerhaft impfen, um Infektionen zu vermeiden – oder wie bei der Grippe nur noch gezielt, um vor der Krankheit zu schützen? Darüber werden wir bald diskutieren müssen.

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