Trendwende oder „vorübergehendes Phänomen“? In diesen Ländern sinken die Corona-Fallzahlen trotz Delta
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In den Corona-Statistiken von Ländern wie Portugal oder Großbritannien zeigt sich dieser Tage ein „Delta-Knick".
© Quelle: Vasco Célio/dpa/Our world in data/RND Montage
London/Lissabon/Moskau. Großbritannien, Russland, Portugal – diese drei Länder waren in Europa zuerst von der Delta-Variante betroffen. Nachdem sich die Infektionslage in den Staaten mehrere Monate auf niedrigem Niveau stabilisiert hatte, sorgte die anfangs in Indien entdeckte Mutante Ende Juni/Anfang Juli wieder für rasch steigende Infektionszahlen. Vor allem in der ungeimpften Bevölkerung breitete sich die Virusvariante aus, die wesentlich ansteckender ist als ihre Vorgänger. So meldete Großbritannien zwischenzeitlich einen Höchstwert bei der Sieben-Tage-Inzidenz von knapp 703 Fällen pro 1.000.000 Einwohner, Portugal verzeichnete zu Hochzeiten etwa 326 Fälle pro 1.000.000 Einwohner und Russland rund 167 Fälle pro 1.000.000 Einwohner.
Seit einigen Tagen zeigt sich jedoch eine Trendumkehr in den Corona-Statistiken. Die Fallzahlen gehen wieder zurück, nachdem sie rund einen Monat lang kontinuierlich gestiegen sind. Wie kann das sein?
Großbritannien
Großbritannien hatte als erstes Land Europas über Infektionen mit der Delta-Variante berichtet. Dort macht die Mutante nach Angaben der britischen Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) inzwischen 99 Prozent aller Neuinfektionen aus. Vor allem junge Erwachsene infizieren sich im Vereinigten Königreich. Wie PHE berichtete, lag die Zahl der Neuinfektionen auf 100.000 Menschen innerhalb einer Woche in dieser Altersgruppe bei zuletzt knapp 1155 – der höchste je festgestellte Wert seit Ausbruch der Pandemie im vergangenen Jahr.
Grund für die hohe Ansteckungsrate dürfte nach Ansicht von Expertinnen und Experten unter anderem sein, dass die Impfrate bei jüngeren Menschen niedriger ist als bei den Älteren. Hinzu komme, dass Menschen dieser Altersgruppe mehr soziale Kontakte pflegen als ältere Menschen.
Warum die Infektionszahlen in Großbritannien jetzt sinken, lässt sich nicht ganz genau erklären. Fest steht: In den vier Landesteilen England, Wales, Schottland und Nordirland entwickeln sich die Fallzahlen unterschiedlich. Bisher geht die Zahl der Corona-Neuinfektionen nur in Schottland zurück. Nach Einschätzung von Kit Yates, mathematischer Biologe an der Universität von Bath, kann diese Entwicklung mit einer gesunkenen Testzahl zusammenhängen. Wird weniger getestet, können folglich weniger Infektionen gefunden werden.
Auch das gute Wetter könne ein Grund für den Rückgang sein. „Es gibt viele Möglichkeiten, aber es scheint unwahrscheinlich, dass wir Herdenimmunität erreicht haben“, schrieb Yates auf Twitter. Modelliererinnen und Modellierer der Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) würden davon ausgehen, dass die Fälle nach dem „Freedom Day“ weiter steigen und im August hoch bleiben werden. Fraglich ist also, wie lange die Trendumkehr anhält.
Einschränkungen für Nichtgeimpfte zukünftig möglich
Einige Politiker gehen davon aus, dass Nichtgeimpfte zukünftig Einschränkungen befürchten müssen, besonders Großveranstaltungen stehen auf dem Prüfstand.
© Quelle: dpa
Am 19. Juli hatte Großbritannien die meisten der noch verbliebenen Beschränkungen wegen des Coronavirus beendet. Bars und Restaurants dürfen beispielsweise wieder bei voller Kapazität öffnen. Die „Wiedereröffnung“ des Vereinigten Königreichs ist jedoch umstritten, vor allem unter Corona-Expertinnen und Experten. „Es wird exponentielle Wachstumsraten von Neuinfizierten geben, allerdings verhältnismäßig wenige schwere Verläufe und Todesfälle“, sagte Epidemiologe Prof. Timo Ulrichs von der Berliner Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften Anfang Juli dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „aber absolut gesehen dann doch ziemlich viele, weil eben noch nicht ausreichend Menschen geimpft sind und weil die hohen Neuinfiziertenzahlen dann doch auch viele Krankheitsfälle nach sich ziehen werden.
Portugal
Anders als in Großbritannien dürfte sich der Rückgang der Corona-Fallzahlen in Portugal mit der Anordnung neuer Maßnahmen erklären lassen. Vor eineinhalb Wochen hat das Land wieder eine nächtliche Ausgehsperre eingeführt. In Regionen mit besonders schlechter Corona-Lage, darunter auch in Lissabon, dürfen die Menschen zwischen 23 Uhr und 5 Uhr nur mit triftigem Grund auf die Straße.
Aufgrund der Delta-Variante und der damit einhergehenden angespannten Infektionslage hatte das Robert Koch-Institut Portugal zwischenzeitlich als Virusvariantengebiet eingestuft. Für Reisende bedeutete das, dass sie bei der Einreise nach Deutschland einen negativen Test vorzeigen und sich zu Hause für 14 Tage in Quarantäne begeben mussten. Inzwischen gilt das Land nur noch als Hochinzidenzgebiet. Das bedeutet: Wer von dort nach Deutschland einreisen will, muss ein negatives Testergebnis, einen vollständigen Impfnachweis oder eine Covid-19-Genesung nachweisen können. Zu Hause müssen alle, die nicht geimpft oder genesen sind, eine zehntägige Quarantäne antreten, die durch einen negativen Corona-Test um fünf Tage verkürzt werden kann.
Dass sich der rückläufige Trend der Infektionszahlen fortsetzt, bezweifelt Epidemiologe Ulrichs. Gegenüber „Focus Online“ sprach er von einem „vorübergehenden Phänomen“, das mit der Rückkehr von Reisenden nach dem Sommerurlaub enden könnte. Es gebe keinen Grund dafür, weshalb die Inzidenzen von allein dauerhaft sinken. Dazu würde es nur bei einer hohen Impfquote kommen, wenn viele Menschen also immun gegen das Virus sind.
In Portugal haben nach Angaben des Nationalen Gesundheitsdienstes SNS bisher 6.577.209 Millionen Menschen mindestens eine Impfung erhalten, 4.636.317 Millionen Menschen sind vollständig immunisiert. Bei einer Bevölkerungszahl von 10.298.252 Millionen, die das portugiesische Statistikinstitut INE angibt, wären das rund 63,9 Prozent Erstgeimpfte und 45 Prozent vollständig Geimpfte. Für eine breite Grundimmunität, die die Fallzahlen dauerhaft minimiert, reichen diese Werte noch nicht aus.
Russland
In Russland gehen die Infektionszahlen zwar zurück, aber nur sehr langsam. Der schleppende Rückgang dürfte vor allem dem Impftempo geschuldet sein. In dem Land sind etwas mehr als 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger erstgeimpft und nur knapp 15 Prozent vollständig immunisiert. Der Grund: Es herrscht eine große Impfskepsis, vor allem auf dem Land. Um dem entgegenzuwirken, haben Regionen wie Moskau und St. Petersburg Angestellte im Einzelhandel, im Dienstleistungsgewerbe und in Gesundheitsberufen sowie Lehrerinnen und Lehrer zu einer Corona-Impfung verpflichtet.
Und auch die Aufhebung von Corona-Maßnahmen, unter anderem in der russischen Hauptstadt, verhindert, dass die Infektionszahlen schneller sinken. So können beispielsweise wieder alle Menschen in Moskau Bars und Restaurants besuchen, unabhängig davon, ob sie geimpft, genesen oder getestet sind. Bürgermeister Sergej Sobjanin sagte, die Stadt habe die Auflagen zurückgezogen, weil sich das Tempo der Ansteckung verlangsamt habe. Clubs und Restaurants dürfen auch wieder nachts öffnen, auch Feste dürfen dort gefeiert und Konzerte gegeben werden. Das Ansteckungsgeschehen müsse aber weiterhin genau beobachtet werden, sagte Sobjanin.
Warum die Fallzahlen trotz der Öffnungen zurückgehen, ist im Moment unklar. Klar ist, dass Russland Delta noch immer nicht vollständig unter Kontrolle gebracht hat. Denn noch in keiner vorherigen Corona-Welle hat das Land tagtäglich so viele Todesfälle verzeichnet wie jetzt. Alleine am Montag waren es knapp 770. „Wir haben den Höhepunkt der Todesfälle noch nicht erreicht“, sagte Alexey Raksha, ein Demograf, der früher bei der staatlichen russischen Statistikbehörde Rostat gearbeitet hat, dem US-amerikanischen Nachrichtensender ABC News. „Und ich sage voraus, dass der Juli der bisher schlimmste Monat sein könnte.“
mit dpa