Erfahrungen eines Betroffenen

Die Nacht durchmachen, um den Tag zu bewältigen: So hilft Schlafentzug gegen Depressionen

Mit Schlafentzug gegen Depressionen: Wenn Erkrankte die Nacht zum Tag machen, kann das mitunter die Symptome lindern.

Mit Schlafentzug gegen Depressionen: Wenn Erkrankte die Nacht zum Tag machen, kann das mitunter die Symptome lindern.

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Man hört Simon Schneider* die gute Laune an, als er am Telefon von seinem Tag erzählt. Der 20-Jährige hat seine Wohnung kurz nach 8 Uhr verlassen, hat zwei Vorlesungen besucht, danach noch etwas Zeit mit Kommilitonen verbracht. Nichts Außergewöhnliches für viele Studierende. Doch Tage wie diese sind selten für Simon. Er leidet an Depressionen, seit er denken kann.

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Dass es ihm heute so gut geht, verdankt der 20-Jährige einer Methode, die er schon als Teenager durch Zufall entdeckte: selbstinduzierter Schlafentzug. Oder, wie er es in der neunten Klasse nannte: die Nacht durchmachen, um am nächsten Tag gut drauf zu sein. Und am Abend endlich einschlafen zu können. Keine einzige Stunde hat er heute Nacht geschlafen.

Was Simon durch Selbstversuche entdeckt hat, ist ein etabliertes Behandlungsverfahren bei Depression, erklärt Prof. Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Deutschen Depressionshilfe. Unter medizinischer Aufsicht bleiben die Patienten die ganze Nacht oder für einige Stunden in der zweiten Nachthälfte wach. „Zu ihrer Überraschung merken sie in den frühen Morgenstunden, vielleicht zum ersten Mal seit mehreren Monaten, dass das Frühstück plötzlich wieder schmeckt, dass sie wieder lächeln können“, berichtet der Psychiater im Telefoninterview. „Dieser Effekt ist sehr eindrücklich.“ Das Phänomen ist Psychiaterinnen und Psychiatern bereits seit den Sechzigerjahren bekannt. Bei 60 Prozent aller Betroffenen schlägt die Behandlung an.

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Auftanken in der Nacht

Eine Stunde lang hat Simon am Montagabend wachgelegen, ohne müde zu werden. Dann traf er eine Entscheidung. Zog die Schlafmaske vom Gesicht, fummelte die Stöpsel aus den Ohren und stand auf. „Ich kann genau fühlen, wann dieser Moment da ist, wo ich wirklich nicht mehr schlafen und auch problemlos wachbleiben kann“, beschreibt er. „Ich spüre dann so eine innere Unruhe.“ Ab jetzt ist die Nacht für ihn, was für andere ein freier Tag ist: Er kocht sich etwas und isst, schafft Ordnung in seinem Wohnheimzimmer, setzt sich aufs Bett und schaut Youtube-Videos auf seinem Laptop. Müde wird er nicht. Die Zeit bis 8.10 Uhr vergeht schnell. Simon genießt sie, das Wissen, dass niemand ihn stören wird, die Stille der Nacht um ihn herum. 8.15 Uhr beginnt seine erste Vorlesung. Vom Wohnheim zur Hochschule sind es nur fünf Minuten.

Es wird kein gewöhnlicher Dienstag für den Studenten. Im Hörsaal starrt er nicht mit leerem Blick auf das Whiteboard. Der Prof fragt ihn nicht, ob auch alles in Ordnung sei. Er geht nach der letzten Vorlesung nicht direkt nach Hause, um sich ins Bett zu legen und stundenlang Netflix zu schauen. Heute ist Simon hochkonzentriert, rechnet mit, stellt Fragen. Nach der Vorlesung geht er mit seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen zu seinem Lieblingsitaliener und dann in die Unibibliothek, um noch ein wenig zu lernen. „Oft habe ich einen sehr vernebelten Kopf. Wenn ich durchgemacht habe, ist er völlig klar“, beschreibt Simon seinen Zustand. „Ich bin dann fokussiert und nicht abzulenken, kann mich sehr gut in Sachen vertiefen.“

Irgendwann zwischen 18 und 19 Uhr legt Simon sich schlafen. Das Gefühl, dazuliegen und immer müder zu werden, bis er schließlich einschläft: Für die meisten eine Selbstverständlichkeit. Für Simon ist es ein seltener Luxus.

Ärztliche Begleitung ist wichtig

Hegerl zufolge ist der Schlafentzug keine Behandlung, die man ohne ärztliche Begleitung durchführen sollte. Er kenne aber Patientinnen und Patienten, die den Schlafentzug im Rahmen einer stationären Behandlung kennengelernt haben, damit gute Erfahrungen gemacht haben und in Rücksprache mit ihrem Arzt gelegentlich zu Hause anwenden. Auch auf der Website der Deutschen Depressionshilfe lässt sich nachlesen: „Manche Patienten, die mit Schlafentzug gute Erfahrungen gemacht haben, führen diesen auch zu Hause gelegentlich durch, um die Depression im Zaum zu halten.“

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Die Übermüdung, die mit totalem Schlafentzug einhergeht, stellt im Alltag allerdings ein Risiko dar. „Schlafentzug kann natürlich die Reaktionsfähigkeit beeinträchtigen, vielleicht auch die Leistungsfähigkeit. Wer tagsüber Busfahrer ist, sollte das nicht machen“, mahnt Hegerl, der selbst zur Wirkung des Schlafentzugs bei Depressionen geforscht hat.

Das macht Schlafentzug mit dem Organismus

Der Psychiater hat jahrelang zu dem Thema geforscht. Seine Begründung für die Wirksamkeit des therapeutischen Schlafentzugs: „Eine Depression ist keine Folge von Stress, sondern selbst ein Stresszustand. Die Patienten sind permanent angespannt wie vor einer Prüfung“, erklärt er. Der gesamte Organismus eines depressiven Menschen – seine Gehirnaktivität, sein Herzschlag, das Stresshormonlevel – sei permanent hochreguliert. Das Ergebnis: Patientinnen und Patienten fühlen sich erschöpft und angespannt, werden aber nicht schläfrig. Besonders deutlich wurde das in einer Studie, in der die depressiven Probandinnen und Probanden im Gegensatz zu gesunden Teilnehmenden auch dann nicht müde wurden, als sie zehn Minuten lang mit geschlossenen Augen liegenblieben.

In diesem Zustand der permanenten Spannung sei alles gut, was müde macht – Sport zum Beispiel, oder eben Schlafentzug, erklärt Hegerl. Beides wirke der krankhaften Hochregulierung entgegen. Das sei auch der Grund dafür, dass sich Depressionen abends bessern. Umgekehrt erleben viele Betroffene nach dem Aufstehen ein sogenanntes Morgentief.

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Zwischen Schlaf und Depressionen gibt es viele Wechselwirkungen. Wer an Depressionen leidet, hat oft an nichts Interesse. Da liegt es nahe, sich früh ins Bett zu legen. Doch das Einschlafen fällt meist schwer: 80 bis 90 Prozent aller Depressiven leiden laut dem deutschen Ärzteblatt an Schlafstörungen – ein Diagnosekriterium der Krankheit. Das Ergebnis ist eine unruhige Nacht. Am nächsten Morgen der hoffnungsvolle Gedanke: noch ein paar Stunden liegenbleiben, vielleicht kommt die Erholung doch noch. Hegerl bezeichnet dieses Verhalten als einen Teufelskreis. Denn der Umkehrschluss zur Wirksamkeit der Schlafentzugstherapie lautet: Zu viel Schlaf kann eine Depression verschlimmern.

Wo Schlafentzug helfen kann – und wo nicht

Für viele Betroffene ist der therapeutische Schlafentzug ein Hoffnungsträger, nachdem andere Behandlungen nicht angeschlagen haben. In einem großen Diskussionsforum zum Thema Depression empfiehlt eine Nutzerin die Methode und beschreibt: „Ich konnte damit ziemlich gute Erfolge erzielen, zumindest in den ersten Stunden nach dem verringerten Schlaf fühle ich mich wesentlich wohler als sonst. (…) Dann kann es wirklich passieren, dass die Depression fast komplett verschwunden ist und nur eine Müdigkeit übrig bleibt. Das Problem dabei ist, dass ich mich dann zwar recht gesund fühle, aber dieser Zustand hält leider nur wenige Stunden an.“ Und hier beginnt der Traum vom Allheilmittel Schlafentzug zu bröckeln: Sein positiver Effekt ist nicht von Dauer. Er endet spätestens, nachdem der Patient oder die Patientin wieder geschlafen hat.

Und: Schlafentzug kann Medikamente nicht ersetzen. „Bei einer leichten Depression kann man das vielleicht initial versuchen – aber auch eine leichte Depression ist eine schwere Erkrankung“, sagt Hegerl dazu. „Wenn es nicht besser geht nach einiger Zeit, sollte entsprechend der Behandlungsleitlinien mit Antidepressiva und/oder Psychotherapie behandelt werden.“ Eine ähnlich hoffnungsfrohe Frage – kann Schlafentzug vielleicht sogar nicht depressiven Menschen helfen, die sich einfach in einer schweren Lebenslage befinden? – beantwortet Hegerl ebenfalls negativ: „Das nützt nach meiner Einschätzung niemandem.“ Die oben beschriebene krankhafte Hochregulation sei es, die der Schlafentzug bekämpfen könne. Gewöhnlichen Kummer nicht.

Simon Schneider ist seit einigen Monaten in Therapie. Sein Ziel ist es, den Schlafentzug eines Tages nicht mehr zu brauchen, um seinen Alltag zu bewältigen. Doch im Notfall hilft ihm die Methode zuverlässig aus dem Tief. Oder, wie die Forumnutzerin es beschreibt: „Wenn es klappt, gibt es einem auf jeden Fall ein wenig Zuversicht, da man erkennt, dass man sich auch gut fühlen kann und Leben auch wieder Spaß machen kann. Dann weiß man, dass es sich lohnt weiterzumachen und sich zurückzukämpfen.“

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Mehr Infos und Hilfen zum Thema Depression für Betroffene und deren Angehörige hat die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hier gebündelt.

Hier gibt es erste Hilfe bei Depressionen

*Name geändert

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