Bedarf an künstlicher Beatmung steigt: Mehrere Länder leiden wegen Corona unter Sauerstoffmangel
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Medizinisches Personal legt auf einer Intensivstation einem Covid-19-Patienten einen Zugang für die künstliche Beatmung. (Symbolbild)
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Während Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) von einer gebrochenen dritten Corona-Welle in Deutschland spricht, melden Länder, in denen die Impfkampagne noch am Anfang steht, steigende Infektionszahlen. Das stellt Krankenhäuser weltweit vor Herausforderungen. Denn da ein Großteil der Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation auf eine künstliche Beatmung angewiesen ist, herrscht vielerorts Sauerstoffmangel. Das zeigt eine aktuelle Untersuchung des britischen Journalistenvereins „Bureau of Investigative Journalism“, der die Daten mehrerer Behörden auswertete. Demnach droht 19 Ländern auf der Welt, darunter Indien, Argentinien, Iran, Nepal, den Philippinen, Malaysia, Pakistan, Costa Rica, Ecuador und Südafrika, ein „totaler Zusammenbruch des Gesundheitssystems“.
Die Länder seien besonders gefährdet, da die Nachfrage nach künstlicher Beatmung den Ergebnissen nach seit März um mindestens 20 Prozent gestiegen ist, während weniger als 20 Prozent ihrer Bevölkerung eine schützende Spritze gegen das Coronavirus erhalten haben. Seit diesem Monat benötigten sie daher mehr als 50.000 Kubikmeter Sauerstoff pro Tag für Covid-19-Patientinnen und -Patienten. Außerdem befürchten die Expertinnen und Experten eine ähnliche Lage in einigen weiteren asiatischen und afrikanischen Ländern, zum Beispiel Laos, Nigeria und Äthiopien. Sie verfügten ohnehin über weniger ausgereifte Sauerstoffversorgungssysteme – und das bedeute große Probleme schon bei einem geringen Anstieg der Menschen auf der Intensivstation. Doch auch in Mitteleuropa bestehe die Gefahr eines Engpasses.
Insgesamt hat sich der Bedarf an medizinischem Sauerstoff zur Behandlung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten der Auswertung nach in den letzten zwei Monaten verdoppelt – und zwar in mehr als 30 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, darunter Fidschi, Vietnam, Afghanistan, Kambodscha, Mongolei, Angola und Kirgisistan. Viele von ihnen litten schon vor der Corona-Pandemie an einem entsprechenden Mangel, sagt Leith Greenslade, Koordinatorin der Every Breath Counts Coalition, einer der Behörden, die für die Untersuchung die Daten lieferte.
Wie schnell der Bedarf an künstlicher Beatmung steigt, spielt eine große Rolle
Wer unter einem schweren Verlauf der Erkrankung leidet und auf eine Beatmung angewiesen ist, benötigt dem Bericht nach ungefähr zwei Wochen lang zwischen 14 und 43 Kubikmeter Sauerstoff täglich. Diese Menge sei zwar beachtlich, doch in vielen Fällen sei der Schlüsselindikator nicht nur, wie viel Bedarf bestehe, sondern auch, wie schnell die Nachfrage steige. Zum Beispiel betrage der aktuelle Sauerstoffbedarf in Laos bescheidene 2124 Kubikmeter pro Tag, allerdings entspreche das einem fast 200-fachen Anstieg ab Mitte März.
Besonders angespannt ist die Lage auch in Indien: Für den Kampf gegen die dort entdeckte Corona-Variante B.1.617 benötigt das Land derzeit täglich rund 15,5 Kubikmeter Sauerstoff – mehr als 14-mal so viel wie noch im März, teilt der Journalistenverein mit. Mittlerweile hat Indien deshalb die Ausfuhr von Sauerstoff untersagt.
Ähnlich kritisch sind die Daten laut Verein in den Nachbarländern: Im kleinen Himalaya-Staat Nepal übersteigt der aktuelle Bedarf an Sauerstoff den von vor zwei Monaten demnach um das 100-fache. Auf der im indischen Ozean gelegenen Insel Sri Lanka sei die Nachfrage um das Siebenfache gewachsen. Und in Pakistan lägen derzeit 60 Prozent mehr künstlich beatmete Patientinnen und Patienten auf Intensivstation als noch auf dem letzten Höhepunkt der Pandemie im Sommer 2020. „Die Stimmung ist extrem düster“, sagt Fyezah Jehan, ein Arzt in Karachi, dem „Bureau of Investigative Journalism“. „Ich denke, wir haben große Angst vor einer Situation wie in Indien.“
Produktion von medizinischem Sauerstoff steht oft hinten an
Dass es zu solch drastischen Engpässen kommen kann, liegt laut Bericht auch an der Nutzung von produziertem Sauerstoff. Daten der Gasbranchenplattform Gasworld Business Intelligence zufolge macht der Anteil von medizinischem Sauerstoff an der weltweiten Produktion lediglich ein Prozent aus. Der Rest werde beispielsweise im Bergbau, in der Chemieindustrie oder der Luftfahrt verwendet. Für Greenslade ist das unverständlich: „Warum ist eine so wichtige Ressource wie Sauerstoff in Bergbau, Stahl, Öl und Gas gebunden, wenn es im öffentlichen Gesundheitssystem nicht genug gibt, um Babys, Erwachsene und ältere Menschen am Leben zu halten?“
Sauerstoffmangel: Nationale Strategien schaffen Abhilfe
Die internationale Gemeinschaft versuche, den Ländern zu helfen: Unter anderem die Weltgesundheitsorganisation (WHO), UNICEF und die Weltbank hätten Hunderttausende Sauerstoffkonzentratoren an die Staaten gesendet, doch auch bei den Herstellern mache sich die Pandemie bemerkbar: Ihnen fehlten mittlerweile Teile für die Produktion. Um künftig einen Sauerstoffmangel zu vermeiden, wünscht sich Greenslade gegenüber dem „Bureau of Investigative Journalism“, dass die Länder nationale Strategien zur Produktion von medizinischem Sauerstoff entwickelten. Die Regierungen müssten Pläne für unerwartete Nachfragesteigerungen haben.