Schule, Klinik, Mutation: Wie Corona-Experten die Lockdown-Beschlüsse beurteilen
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Der Lockdown wird verschärft und verlängert: Die Einkaufsstraßen bleiben bis Ende Januar weiterhin leer. (Symbolbild).
© Quelle: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbil
Der Lockdown bleibt – und wird in wesentlichen Punkten noch einmal verschärft – unter anderem mit weiteren Kontaktbeschränkungen und einer neu eingeführten Regelung zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Landesministern getroffenen Beschlüsse mit einem ganzen Bündel an Corona-Maßnahmen sind aus Sicht von Virologen, Epidemiologen und Medizinern angesichts der derzeitigen Pandemielage unvermeidbar. Lockerungen? Keine Option, bei weiterhin sehr hohen Infektionszahlen, Covid-19-Erkrankten und Toten.
Wie sinnvoll halten Wissenschaftler aber die Zielvorgabe von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner? Drücken längere Schließzeiten von Schulen und Einzelhandel die Fallzahlen nach unten? Bekommen die Kliniken durch die Beschlüsse mehr Luft zum Durchatmen? Und reichen die Corona-Maßnahmen aus, um sich für die mögliche Ausbreitung der ansteckenderen Virusvariante B.1.1.7 zu wappnen? Ein Blick in die verschiedenen Bereiche:
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Die Pandemie und wir
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Schwierige Prognose: Reicht der Lockdown bis Ende Januar überhaupt?
Die derzeitige Lage ist anhand konkreter Zahlen derzeit nur sehr schwer greifbar. „Die Auswirkungen von Weihnachten und Silvester sind derzeit noch unklar“, erläutert Datenkennerin Anita Schöbel, Leiterin am Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik der Fraunhofer-Gesellschaft. Es haben auch weniger Testungen stattgefunden. Deshalb sei es auch schwierig, konkrete Prognosen für die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen zu liefern.
„Rechnet man mit den Werten wie im Frühjahrslockdown, so kann man nach einer Anlaufphase grob mit einer wöchentlichen Halbierung der Inzidenzwerte rechnen.“ Das bestätigten auch die Daten aus anderen Ländern. „Verhalten wir uns also wie im Frühjahr und macht uns die neue Mutation keinen Strich durch die Rechnung, können wir ab Februar auf erste vorsichtige Lockerungen hoffen“, sagte Schöbel dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Lockdown verlängert - und noch weniger Kontakte
Das Corona-Virus breitet sich weiter aus. Deshalb sollen Geschäfte länger geschlossen bleiben, private Treffen noch mehr eingeschränkt werden.
© Quelle: dpa
Das letzte Mittel bei hohen Fallzahlen: Schulen schließen
Wir können die Ausbreitung des Virus aber nur eindämmen, wenn wir überall, wo es möglich ist, Kontakte vermeiden. Auch in den Schulen.
Anita Schöbel, Statistikexpertin
Einzelhandel, Tourismus- und Freizeiteinrichtungen und nun auch die Schulen bleiben weiterhin und bis vorerst Ende Januar geschlossen. „Ich bin sehr froh, dass die Politik die Situation ernst nimmt und angemessen reagiert“, sagt Schöbel. „Wir haben leider derzeit keine andere Wahl, wenn wir eine Überlastung der Intensivstationen und viele weitere Todesfälle vermeiden wollen.“
Die Mathematikprofessorin erachtet das Schließen von Schulen bei den derzeit sehr hohen Inzidenzwerten als sinnvoller als Wechselunterricht. Der Unterricht sollte in dieser Phase möglichst digital fortgesetzt werden. „Wechselunterricht ist epidemiologisch gesehen zwar weniger wirksam als Schulschließungen, aber kann richtig angewendet die Übertragungsraten immerhin auf etwa 1/8 reduzieren“, sagt die Expertin, die Simulationen zu Fallzahlentwicklungen in Deutschland berechnet. Wechselunterricht könne dann bei sinkenden Inzidenzwerten wieder eingesetzt werden – zunächst dort, wo digitaler Unterricht nicht ausreicht.
„Der Lockdown ist für alle hart, Kulturbetriebe, Geschäfte, Restaurants, auch für die Studierenden an den Universitäten“, weiß auch Schöbel. „Wir können die Ausbreitung des Virus aber nur eindämmen, wenn wir überall, wo es möglich ist, Kontakte vermeiden. Auch in den Schulen.“
Die große Gefahr: Der Klinikkollaps
Wir wissen im Moment eigentlich überhaupt nicht, wo wir stehen.
Gernot Marx, Divi-Präsident
Gernot Marx, seit Anfang Januar neuer Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), ist überzeugt, dass das drastische und konsequente Handeln zum derzeitigen Zeitpunkt der richtige Ansatz ist, um Infektionszahlen nachhaltig zu reduzieren. „Ich bin sehr froh über diese Entscheidung. Die Kliniken sind wirklich voll und die Intensivstationen auch“, sagte Marx dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Aktuell seien weit über 22.000 Intensivbetten in den Kliniken belegt, also mehr als 80 Prozent der Kapazitäten. „Durch die kontinuierlich hohe Anzahl von rund 6000 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen sind die Ärzte und Pfleger inzwischen wirklich am Anschlag“, berichtet der Divi-Präsident. „Eine weitere Belastung mit wesentlich mehr Patienten wäre wirklich schwierig.“ Es sei das wichtigste Ziel, jetzt die Fallzahlen und den R-Wert deutlich unter die 7-Tage-Inzidenz von 50 zu senken. „So gewinnen wir Zeit und können währenddessen möglichst viele Menschen impfen.“
Ob die jetzt getroffenen Maßnahmen ausreichen, um die Kliniken in diesem Winter zumindest ein Stück zu entlasten, sei gegenwärtig schwer zu beurteilen. „Wir wissen im Moment eigentlich überhaupt nicht, wo wir stehen“, sagt Marx. „Wegen weniger Testungen über Weihnachten und Silvester ist erst ab Anfang nächster Woche wieder mit verlässlicheren Prognosen zu Fallzahlen und Erkrankungen zu rechnen.“
Die Zielvorgabe: Ist die Sieben-Tage-Inzidenz von 50 ausreichend?
Die von den Sars-CoV-2-Eigenschaften vorgegebene Logik, die hinter der Eindämmungsstrategie steht, besagt: Je weniger Fälle auftreten, umso besser können die Gesundheitsbehörden die einzelnen Infektionen nachverfolgen und umso mehr kann daraufhin das gewohnte gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben wieder aufgenommen werden. Die Frage ist nur: Wie viel weniger Infektionen sind ausreichend? Die politischen Entscheidungsträger hatten sich nach dem ersten Lockdown 2020 auf eine Zielvorgabe von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen verständigt – und halten auch jetzt weiter daran fest. Bislang sind die meisten Landkreise von diesem Ziel sehr weit entfernt.
Ein Positionspapier, das mehr als 300 europäische Pandemieforscher Mitte Dezember unterschrieben haben, fordert hingegen klarere Zielvorgaben seitens der Politik. Statt 50 sei der Wert 10 eine sinnvolle Vorgabe, um das Virus nachhaltig unter Kontrolle halten zu können. „Zielvorgaben bieten einen verlässlichen Rahmen, den jeder verstehen kann, ohne dass sich die Politik auf konkrete Zeitpunkte festlegen muss“, sagt auch Schöbel. Es sei der richtige Ansatz, dass zunächst die Inzidenz in ganz Deutschland im Blick behalten werden müsse. „Erst bei niedrigen Inzidenzwerten, wenn das Ausbruchsgeschehen wieder auf lokale Hotspots eingegrenzt werden kann, kann man landkreisbezogen reagieren.“
Noch weniger Kontakte – denn das Coronavirus wird ansteckender
Um B.1.1.7 zu kontrollieren, müssen wir bei den Kontaktbeschränkungen noch konsequenter sein als bisher.
Prof. Jörg Timm, Mutationsexperte und Virologe
Was aber, wenn das Coronavirus in den kommenden Wochen andere Eigenschaften aufweist? Die zuerst in Großbritannien entdeckte und inzwischen in vielen EU-Staaten nachgewiesene neue Virusvariante B.1.1.7 bereitet aus Sicht von Virologen zu Recht Sorge. „Um B.1.1.7 zu kontrollieren, müssen wir bei den Kontaktbeschränkungen noch konsequenter sein als bisher“, sagt Prof. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Es sei inzwischen eine gesicherte Erkenntnis, dass diese Variante ein deutlich größeres Ansteckungspotenzial hat als die bislang dominante Sars-CoV-2-Variante. „Die epidemiologischen Daten einer neuen Studie vom London Imperial College lassen da wenig Zweifel“, urteilte der Experte gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Was die neue Corona-Variante für Deutschland bedeuten könnte
Eine neue Variante des Coronavirus macht Experten nervös. Werden in den kommenden Monaten härtere und länger andauernde Maßnahmen nötig sein?
© Quelle: dpa
Es sei davon auszugehen, dass B.1.1.7 einen R-Wert mit einem um 0,4 bis 0,7 höheren Faktor aufweise. Deshalb steige mit der Ausbreitung der neuen Variante erneut auch das Risiko exponentiellen Wachstums. Man müsse davon ausgehen, dass die Infektionszahlen auch bei bereits bestehenden Corona-Maßnahmen plötzlich wieder zunehmen. „Wir hätten plötzlich eine Reproduktionszahl von deutlich über eins. Das heißt im Klartext: Eine infizierte Person würde dann im Schnitt ein bis zwei weitere Personen anstecken. Momentan ist es im Durschnitt weniger als eine weitere Person“, erklärt Timm. „Das ist dann schon ein gewaltiger Unterschied, wenn sich diese Variante durchsetzt.“
Es sei unklar, wie stark die Variante derzeit bereits in Deutschland vertreten ist und wie schnell sie sich weiter ausbreitet. Zusätzlich bewegten sich die Infektionszahlen in Deutschland sowieso schon auf einem zu hohen Niveau. „Deshalb müssen niedrigere Infektionszahlen weiterhin das oberste Ziel sein, um wieder in ein besseres Fahrwasser zu kommen.“ Weniger Infektionen in der Bevölkerung entlasteten nicht nur das Gesundheitssystem, sondern minimierten auch das Risiko weiterer Mutationen. „Mit dem Start der Impfungen wird der Selektionsdruck auf das Virus zunehmen“, prognostiziert Timm.