Corona und die Mär von den verlässlichen Zahlen

Wesentlich mehr Bürgerinnen und Bürger als bisher angenommen sollen bereits geimpft sein – eigentlich eine gute Nachricht, wären da nicht die Defizite bei der digitalen Datenerfassung.

Wesentlich mehr Bürgerinnen und Bürger als bisher angenommen sollen bereits geimpft sein – eigentlich eine gute Nachricht, wären da nicht die Defizite bei der digitalen Datenerfassung.

Diese Nachricht sorgte für großes Aufsehen: Etwa 5 Prozent Erwachsene mehr als bisher angenommen sollen bereits komplett oder partiell geimpft sein. Das hieße also rund 80 Prozent durchgeimpfte Bürgerinnen und Bürger und bis zu 84 Prozent mit Erstimpfung – so mancher mag da schon von Herdenimmunität frohlocken.

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Doch die erste Freude über die unverhoffte Botschaft des Robert Koch-Instituts weicht schnell einem tiefen Gefühl der Beunruhigung. Wie kann es sein, dass eine der wichtigsten Zahlen bei der Beurteilung der pandemischen Gesamtlage eine Toleranz von 3,5 Millionen Fällen aufweist?

Die Impfquote, wir erinnern uns, war eines der Mantren zur Beurteilung der generellen Situation. Zunächst wurde eine Impfquote von 65 Prozent genannt, um die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Später wurde diese Zahl dann mit Verweis auf die Delta-Variante auf 85 Prozent erhöht.

Auch das ist eine Entscheidung, über die zumindest hätte diskutiert werden können. Aber eine Pandemie ist ein dynamischer Prozess. Auch für Mediziner und Forschende. Dass da nicht immer alles stringent verlaufen kann – das liegt in der Natur der Sache und gibt nichts her für Polemik oder falsche Empörung.

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Was aber alle Alarmglocken schrillen lässt, das ist die Begründung des RKI für die riesige Zahlen­inkonsistenz: Es hätten bisher nur etwa die Hälfte der digital registrierten Betriebsärztinnen und ‑ärzte Impfungen über die Webanwendung gemeldet. Des Weiteren könne davon ausgegangen werden, dass im Praxisalltag nicht alle Impfungen über entsprechende Meldeportale übermittelt würden.

Das ist ein weiterer Offenbarungseid für Deutschlands digitale Infrastruktur. Wie, bitte schön, werden Impfvorgänge denn übermittelt? Per Abakus? Dass wenigstens unsere Zahlen verlässlich seien, wird zusehends zur Mär.

Da werden Erinnerungen an jene Zeiten der Corona-Pandemie wach, als der Inzidenzwert noch das Maß aller Dinge war. Während sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig waren, dass diese Zahl sehr relativ zu betrachten sei, wurde die Ziffer 50 für lange Zeit zum Dogma.

Der Grund für diese Festlegung war so schlicht wie erschütternd: Eine Inzidenz von 50 Infizierten auf 100.000 Bürgerinnen und Bürger war die Höchstzahl, die in den meisten Gesundheitsämtern manuell noch gerade so bearbeitet werden konnte. Eine höhere Inzidenz war mangels digitaler Prozesse praktisch nicht möglich. Ein infrastruktureller Skandal, der eigentlich viel zu ungehört verklang.

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Wie, so fragt man sich, soll angesichts dieser kompletten Abwesenheit einer verlässlichen digitalen Infrastruktur Vertrauen in die Maßnahmen des Staates gelingen – und vor allem: Wie soll man derlei Systemfehler denjenigen erklären, die ohnehin eine Weltverschwörung hinter dem Virus vermuten?

Ein Gemeinwesen, das mal eben 3,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger beim Impfen digital nicht erfasst, verliert auch zusehends die Argumentations­fähigkeit gegenüber all den verirrten Seelen, die in Sachen Corona lieber auf mittelalterliche Mythen als auf moderne Fakten setzen.

Mit Blick auf die kommende Regierung gilt jedenfalls: Die Parteien sollten bei ihren Sondierungen das Wort Digitalisierung in Blockbuchstaben ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Es wäre die wichtigste aller infrastrukturellen Maßnahmen.

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