Medizinethikerin für Freiheiten nach Corona-Impfung: „Eine Ausgangssperre für Geimpfte hat keinen Sinn“
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Wer gegen Corona geimpft ist, soll bald mehr Freiheiten bekommen.
© Quelle: Stefan Puchner/dpa
Menschen, die schon zweimal gegen Corona geimpft wurden, sollen nach einer Vorlage von Bundesgesundheitsminster Jens Spahn bald etwas mehr Freiheiten bekommen. Sie werden künftig wie solche mit einem negativen Test behandelt, Quarantäne und Testpflicht in bestimmten Bereichen entfallen dann beispielsweise.
Auch Christiane Woopen beschäftigt sich mit der Frage, wie Regeln für Geimpfte und Nichtgeimpfte noch während der Pandemie unter ethischen Gesichtspunkten aussehen sollten. Im RND-Interview erklärt die Ethik- und Medizinprofessorin von der Universität Köln und Vorsitzende des Europäischen Ethikrats: „Die Möglichkeiten, die Geimpfte haben, sollten auch noch nicht Geimpfte haben können: in konkreten Situationen durch Testen und langfristig durch ein kluges, strategisch kohärentes Pandemiemanagement.“
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Die Pandemie und wir
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Frau Woopen, beschäftigt sich der Europäische Ethikrat mit Ihnen als Vorsitzender bereits damit, welche Freiheiten für Geimpfte aus ethischer Sicht möglich werden sollten?
Das ist natürlich Thema. Schon zu Beginn im April letzten Jahres war die Einschränkung der verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte durch die Pandemie eine der großen Sorgen des Europäischen Ethikrates. Eine der schlimmsten Folgen der Corona-Krise wäre doch, wenn sich die Menschen daran gewöhnten, dass vom Staat grundlegende Freiheiten und Rechte eingeschränkt werden.
Frei zu sein und dies in Grundrechten garantiert zu wissen ist unser Normalzustand und die Grundlage unseres Zusammenlebens. Gleichzeitig und gerade deswegen braucht es in Europa aber auch dringend ein politisches Bekenntnis zur Solidarität und ein gemeinsames und koordiniertes Vorgehen zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen.
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Christiane Woopen kennt viele Ebenen des Pandemiemanagements. Als Vorsitzende des Europäischen Ethikrates ist sie auf europäischer Ebene vernetzt. Außerdem sitzt die Medizinethikerin im Corona-Expertenrat von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und berät zu regionalen Strategien im Umgang mit dem Virus.
© Quelle: Reiner Zensen
Kontaktbeschränkungen, Quarantäneregeln, Einschränkung der Bewegungsfreiheit: Kann es in dieser Phase mit noch deutlich mehr Ungeimpften erste Freiheiten für Geimpfte geben? Ist das fair?
Es ist meines Erachtens ein irreführender Ansatz zu sagen, der Staat müsse geimpften Person wegen eines Mangels an Impfstoffen Freiheitsrechte entziehen. Es gibt doch Möglichkeiten, die Nichtgeimpften durch Testungen oder den Nachweis einer Immunität nach durchgemachter Infektion ebenfalls an Freiheiten teilhaben zu lassen und damit einer Art impfgesteuerten Zweiklassengesellschaft entgegen zu wirken. Vermutlich deshalb schlägt Jens Spahn vor, Geimpfte so zu behandeln als seien sie negativ getestet. Das ist genau der richtige Ansatz.
Nur Geimpfte im Restaurant? Das Privatrecht lässt das zu
Was wäre aus ethischer Sicht relevant, wenn es irgendwann um den Restaurantbesuch oder die Kreuzfahrt geht?
Ethisch problematisch und wohl verfassungswidrig wäre es, per staatlicher Verordnung auf Dauer bestimmte Freiheitsrechte ausschließlich einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft zu gewähren, die, ebenfalls staatlich gesteuert, Zugang zu den ermöglichenden Bedingungen für diese Freiheiten hat, also die Impfung. Etwas anderes ist das Privatrecht. Das ermöglicht es etwa Reiseveranstaltern, Restaurant- und Hotelbesitzern zu entscheiden: Wir lassen hier nur Geimpfte rein. Das hielte ich für ein Problem. Würde sich dieses Vorgehen in Deutschland etablieren, müsste der Gesetzgeber wohl gegensteuern.
Als Gesellschaft sollten wir uns für alle freuen, die bestimmte Freiheiten wieder genießen können.
Noch ist unklar, wie lange der Immunschutz durch Impfung oder auch Genesung anhält. Ist das ein Problem, wenn es um die Debatte zu Freiheitsrechten geht?
Im Moment sind noch alle damit beschäftigt, dass die erste Impfung möglichst schnell über die Bühne geht. Das ist wichtig – aber man muss auch weiterdenken. Die Frage ist ja, wie man überhaupt feststellen will, ab wann die Immunität so schwach wird, dass eine Infektion und vielleicht auch ein schwerer Krankheitsverlauf wieder möglich sind. Wollen wir allen Ernstes darauf warten, dass es möglicherweise zu Weihnachten wieder zu Ausbrüchen in den Alten- und Pflegeheimen kommt? Deshalb braucht es dringend wissenschaftliche Erkenntnis und ein System, das vorausschauend von Experten begleitet wird.
In den USA dürfen sich Geimpfte untereinander wieder treffen, auch ohne Maske und Abstand. Wäre so ein Vorgehen auch hierzulande denkbar, wenn die Impfkampagne weiter fortgeschritten ist?
Als Gesellschaft sollten wir uns für alle freuen, die bestimmte Freiheiten wieder genießen können. Es braucht keine Neidgefühle, wenn erste Gruppen wieder unter sicheren Umständen Möglichkeiten der Begegnung haben. Man sollte den Menschen das doch gönnen. Es ist gleichwohl zu beachten, was daraus folgt. Führt das zum Beispiel dazu, dass es einen Run auf die Impfstoffe und die Arztpraxen gibt, dass das vereinbarte System der Impfreihenfolge überhaupt nicht mehr eingehalten wird oder dass Impfnachweise gefälscht werden?
Beim Impfen muss es schnell gehen: Mehr Pragmatismus in der Corona-Krise?
Neben medizinischen und epidemiologischen wäre es wünschenswert, auch soziale Risiken bei der Priorisierung zu beachten.
Wäre es denn bedenklich, wenn die Reihenfolge aus pragmatischen Gründen nicht immer eingehalten wird? Schließlich hilft jede Impfung auch weiter aus der Krise.
Es geht um eine Gleichzeitigkeit von Priorisierung und Pragmatismus. Dafür braucht es aber ein geordnetes System, das diejenigen vorzieht, die besondere gesundheitliche Risiken haben. Dazu wären etwa digitale Nachrücklisten für Impfzentren eine praktikable Lösung. Es spräche auch nichts dagegen, dass Hausärzte ihre Patienten mit erhöhtem Risiko aktiv einladen.
Es könnte auch Impfmobile geben, die in Viertel mit besonders prekären sozioökonomischen Verhältnissen fahren. Wir wissen, dass benachteiligte Menschen durch die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung in besonderem Maße zusätzlich belastet und gefährdet sind. Das könnte man durch Impfungen immerhin ein bisschen abpuffern. Neben medizinischen und epidemiologischen wäre es also wünschenswert, auch soziale Risiken bei der Priorisierung zu beachten. Deswegen ja auch das besondere Augenmerk auf Schulen.
Die Stiko empfiehlt, dass auch Geimpfte weiter die AHA + L-Regeln einhalten. Auch Spahn hat angekündigt, dass das bleibt.
Man muss zwischen den verschiedenen Maßnahmen differenzieren. Auch ich halte die Pflicht, Maske zu tragen und Abstand zu halten, für einen vergleichsweise geringen Eingriff. Anders sieht es aus, wenn es darum geht, seinen Beruf ausüben oder die Wohnung verlassen zu dürfen. Es hat doch keinen Sinn, geimpfte Menschen mit einer Ausgangssperre zu belegen. Das ist ein tiefer Eingriff ins Privatleben. Wie lässt sich das rechtfertigen?
Bei so einer Unklarheit schalten die Menschen aus verständlichen Gründen irgendwann ab und finden ihre eigenen Regeln – die dann mehr oder weniger vernünftig sind.
Das klingt nach einer komplexen Abwägung.
Wir haben eine schwierige Übergangszeit vor uns, in der es gilt, angesichts einer steigenden Impfquote und unter immer noch erheblichen Unsicherheiten zum Beispiel bezüglich möglicher Mutationen eine Balance zu wahren. Je mehr Menschen unterwegs sind, die sich an bestimmte Regeln nicht mehr halten müssen, desto weniger halten sich auch andere noch daran.
Deshalb sollte die Impfkampagne so schnell wie möglich durchgeführt werden. Auch die Kommunikation seitens der Politik ist außerordentlich wichtig. Dafür braucht es eine Gesamtstrategie. Nur so bekommen die Menschen Perspektiven und Klarheit. Die aber gibt es nicht. Ich nehme es so wahr, dass die Bevölkerung gerade und leider schon seit längerem sehr verwirrt ist.
Ein Beispiel?
Ich darf, wenn die Bundesnotbremse kommen sollte, bei einer Inzidenz über 100 um 21 Uhr das Haus nicht mehr für einen Spaziergang mit meinem Mann verlassen und auch nicht mit ihm zusammen meine geimpfte Mutter besuchen, mein Kind darf aber bis zu einer Inzidenz von 200 zur Schule gehen. Ich kann in den Gartenmarkt gehen, um einen Sack Blumenerde zu kaufen. Um danach ein Kleid im Laden anzuprobieren, muss ich mich aber vielleicht vorher testen lassen. Bei so einer Unklarheit schalten die Menschen aus verständlichen Gründen irgendwann ab und finden ihre eigenen Regeln – die dann mehr oder weniger vernünftig sind.
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© Quelle: RND
Dritte Corona-Welle: Warnungen ernst nehmen
Also rechnen Sie mit einem weiteren Kontrollverlust in der dritten Infektionswelle?
Die Bundesnotbremse kommt viel zu spät. Wir alle sollten jetzt wirklich den Intensivmedizinern zuhören, nachdem schon die Warnungen der Epidemiologen seit Januar nicht ernst genommen wurden. Es ist inzwischen denkbar, dass es in Deutschland in einzelnen Regionen zur Triage oder vergleichbaren Situationen kommt. Das Durchschnittsalter auf den Intensivstationen sinkt. Die Menschen bleiben dort im Schnitt länger. Das Personal kann nicht mehr. Es ist eine unglaubliche Belastung für die schwer Erkrankten, ihre Angehörigen und Freunde. Und eben auch für das Personal, das am Limit ist und diese Situation seit Monaten ertragen muss.
Ist es vor dem Hintergrund dieser aktuellen Dramatik dann überhaupt angemessen, erste Freiheiten für Geimpfte zuzulassen?
Den Impuls so zu denken kann ich verstehen. Die Inzidenz muss dringend runter, auch um weitere problematische Mutationen zu verhindern. Solidarisch zu sein, kann dabei für den kleinen Teil der bisher vollständig Geimpften bedeuten, eine gewisse Zeit noch auf Freiheiten zu verzichten, obwohl deren Ausübung nicht zu Infektionen führen würde.
Gleichwohl: Die epidemiologische Situation und die Lage auf den Intensivstationen ändern sich nicht dadurch, dass geimpfte Menschen zu Hause bleiben. Viel wichtiger scheint mir der umgekehrte Blick zu sein: Die Möglichkeiten, die Geimpfte haben, sollten auch noch nicht Geimpfte haben können: in konkreten Situationen durch Testen und langfristig durch eine kluges, strategisch kohärentes Pandemiemanagement.