Ärztin zur psychischen Bewältigung der Corona-Krise: „Das Beste aus dem Möglichen machen“

Der anhaltende Lockdown ist auch eine starke psychische Belastung – doch es gibt Wege aus der Krise.

Der anhaltende Lockdown ist auch eine starke psychische Belastung – doch es gibt Wege aus der Krise.

Seit rund einem Jahr definieren zwei Begriffe das Leben der meisten Menschen hierzulande: Lockdown und Homeoffice. Die Corona-Krise setzt den Menschen nicht nur wirtschaftlich zu, auch die psychische Gesundheit Vieler ist zusehends gefährdet. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland spricht Ärztin, Unternehmensberaterin und Buchautorin Mirriam Prieß (49) über die Möglichkeiten, wie jeder Einzelne von uns halbwegs unbeschadet durch die Krise kommen kann – und welche Chancen die aktuelle Belastung perspektivisch bieten könnte.

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Frau Prieß, in Ihrem letzten Gespräch mit dem RND vor 10 Monaten ging es vor allem um Burnout und die Belastungen beziehungsweise Überforderungen durch Corona. Kann so ein Corona-Burnout im Lockdown auch durch Unterforderung ausgelöst werden?

Auf alle Fälle – dass auf der einen Seite die Schaffenskraft nicht ausgeschöpft wird und wir auf der anderen Seite durch die Lockdownsituation bei vielen Dingen auch heillos überfordert sind. Denn ein ganz zentraler Aspekt des Burnouts ist das Nichtgelingen von Beziehungen. Das können konfliktreiche Beziehungen sein, Mangel an sozialen Kontakten – aber auch der Verlust der Beziehung zu sich selbst. Beziehungsverlust und konfliktreiche Beziehungen gibt es übrigens nicht nur zwischen Personen, sondern auch innerhalb eines Systems, mit Vorgesetzten und Verantwortlichen, mit Lebenssituationen im Allgemeinen, wenn ich keine Dialoge mehr führe. Auch wenn ich nicht genügend wesentliche Dinge zu tun habe, kommt man leicht in einen Funktionsmodus, der dann zu Ausgelaugtsein, Resignation und Erschöpfung führt.

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Sorgt Corona nach Ihrer Erfahrung eher für Überforderungs- oder Unterforderungsdepressionen?

Überforderung. Überforderung insofern, als dass mit der Situation nicht mehr umgegangen werden kann. Das hat einmal ganz konkret mit der Bewältigung des Alltags zu tun – unabhängig davon, ob das die Kombination von Familie und Beruf betrifft oder Menschen, die allein sind, nicht mehr genügend soziale Kontakte haben, auf sich selbst zurückgeworfen – und somit überfordert sind.

Schlägt sich das in der gleichen Symptomatik nieder wie beim „klassischen“ Burnout am Arbeitsplatz?

Das kommt drauf an, wie die Betroffenen reagieren. Wenn dagegen angekämpft wird, dann kommt die gleiche Erschöpfung. Das ist häufig bei denen der Fall, die die Kombination von Familie und Beruf zu bewältigen haben. Die Entwicklung eines Burnouts entsteht in vier Phasen: die Alarmphase, die Widerstandsphase, Erschöpfungsphase und Rückzugsphase. Die Rückzugsphase kennzeichnet sich dadurch, dass nach außen weiterhin funktioniert, aber innerlich resigniert wird. Es treten verschiedene Symptome auf, die sich über die einzelnen Phasen verstärken. Es beginnt mit innerer Anspannung, Konzentrationsstörungen, Gereiztheit. Es entsteht eine wachsende Hilflosigkeit, auf die aggressiv und ängstlich reagiert wird, die Betroffenen beginnen zu grübeln, es kommen körperliche Symptome im Bereich des Herz Kreislauf Systems hinzu, Rückenschmerzen, wachsende Infektanfälligkeit, Schlaflosigkeit und so weiter. Am Ende steht die emotionale Erschöpfung – oder die klassische Depression.

Diese vier Phasen vom Aufbegehren und Kampf über Widerstand und Erschöpfung zu einem resignativen Rückzug sind auch gesellschaftlich zu beobachten. Zuerst war da das Aufbegehren, eine Betriebsamkeit, dann ein dagegen Ankämpfen – und nun eine wachsende Erschöpfung. Die zunehmende Hilflosigkeit führt wechselnd zur Aggression, die sich sowohl nach außen wie auch gegen sich selbst oder das nahe familiäre Umfeld richten kann – oder zum depressiven Rückzug.

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Die Hamburger Ärztin, Unternehmensberaterin und Buchautorin Dr. Mirriam Prieß.

Die Hamburger Ärztin, Unternehmensberaterin und Buchautorin Dr. Mirriam Prieß.

Es fehlt also das sich Abfinden mit der Situation.

Das ist entscheidend. Wäre das vorhanden, und das macht ja Resilienz aus, dann wären sie wieder in Beziehung, im Dialog mit der Situation. Dann kämpfen sie nicht mehr dagegen an, sondern begegnen der Situation und sich selbst auf Augenhöhe. Und dann schauen sie, was ist in dieser Situation das Bestmögliche für mich. Erschöpfung findet durch Kämpfe statt, die niemals gewonnen werden können, weil Menschen versuchen, gegen etwas Unabänderliches anzugehen. Resilienz ist dabei die Fähigkeit, den Realitäten auf Augenhöhe zu begegnen und im Unmöglichen das Mögliche zu suchen.

Lässt sich Resilienz denn in der Krise trainieren – und wenn ja, wie?

Auf der einen Seite steht die genetische Disposition und auf der anderen Seite die soziale Prägung, die in den ersten Jahren erfahren wird. Über die Gewichtung streitet sich die Wissenschaft. Aber ja, man kann Resilienz trainieren – auch in der Krise. Ein entscheidender Aspekt der Resilienz ist die Beziehungsfähigkeit – ob im Dialog mit sich selbst oder im Dialog mit dem Umfeld. Das heißt, eine konsequente Atmosphäre die von Augenhöhe, Respekt, Empathie, Interesse und Offenheit geprägt ist – sich selbst gegenüber und untereinander. Die Gefahr in Krisen ist, dass aus Angst Selbstumkreisungen beginnen und anstatt in die Begegnung in den Kampf und die Verteidigung gegangen wird.

Deswegen rate ich auch von einer Krisenkommunikation ab, in der es um Kampf geht. Wer kämpft, ist im Kriegszustand – und wo Krieg herrscht gibt es ganz schnell Feind und Freund. Dann beginnen Spaltungen, die Kraft des Wir geht verloren. Wir haben hier keinen Feind, sondern sind mit der harten Lebensrealität eines Virus konfrontiert, die wir gemeinsam zu bewältigen haben. Resilienz zeichnet sich dadurch aus, dass einer Bedrohung begegnet wird, man an der Bedrohung wächst und diese so hinter sich lässt. Wer kämpft, erschöpft sich. Diese Dialogfähigkeit gilt übrigens nicht nur für das Individuum, sondern stellt derzeit auch eine große gesellschaftliche Herausforderung dar. Wenn wir ein menschliches Miteinander haben wollen, gilt das für uns alle. Ansonsten befinden wir uns permanent im Kampf und die Spaltungen untereinander und auch in uns selbst nehmen zu. Das führt nicht nur zu Krisen, sondern schwächt in Krisen, verlängert Krisen und verschärft Krisen.

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Das heißt, dieser Mangel an Dialogbereitschaft verschärft derzeit auch die Corona-Krise?

Absolut.

Gilt das auch für die Politik?

Da Politiker Menschen sind, gilt das auch für die Politik.

Wird die Corona-Lage im Land auch durch mangelnde Krisenkommunikation seitens der Politik verstärkt?

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Es gibt eine Krisenkommunikation, aber die Frage ist, ob diese Kommunikation wesentlich ist.

Fehlt es vielleicht der Politik derzeit daran, die Dynamik der Prozesse in der Corona-Krise anzuerkennen und auch zuzugestehen?

Das ist ein ganz entscheidender Punkt, der ein Teil des Dialogs auf Augenhöhe sein sollte: die Realitäten anzuerkennen, sie weder zu überhöhen noch klein zu reden sowie authentisch und wahrhaftig zu bleiben. Augenhöhe, das bedeutet auch Schwächen anzuerkennen und Fehler einzugestehen.

Hätten Sie denn einen Vorschlag, wie sich die Dialogkultur in Corona-Zeiten verbessern ließe? Ist es beispielsweise immer zielführend, die Situation möglichst apokalyptisch darzustellen?

Ein weiterer Aspekt des Dialogs ist ja die Empathie – also die Fähigkeit, sich in das Gegenüber einzufühlen. In der jetzigen Situation gibt es viele Gegenüber, die unterschiedlich in Not sind – und viele sind in existenzieller Not. Wenn ich fähig bin, mich in diese Not einzufühlen und dann vor allem mitzufühlen, denn das ist die Definition von der dialogischen Empathie, dann ergibt sich daraus das notwendige Handeln und das Finden der richtigen Worte. Und dann kann ich überlegen, ob es jetzt sinnvoll ist, von Apokalypsen und somit permanent vom Kampf zu sprechen, oder ist es nicht sinnvoller, die Realitäten zu benennen, aber in dieser Benennung verbindend und stärkend und motivierend zu wirken.

Also das Licht am Ende des Tunnels sichtbar zu machen.

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Nicht nur am Ende des Tunnels, sondern im Hier und Jetzt: etwas mitzugeben, für das es sich lohnt, den Weg weiter zu gehen. Das hat sowohl mit einer grundsätzlichen Haltung der Psyche gegenüber zu tun als auch damit, wo sich unser Gesundheitssystem nach wie vor befindet. Das Körperliche steht noch sehr im Vordergrund. Das ist sicherlich wichtig, keine Frage. Aber diese Krise psychisch zu bewältigen – das war von Anfang an klar –, darum geht es im selben Maß und das ist eine enorme Herausforderung. Und je länger es dauert, desto schwieriger wird es. So, wie es ein Konzept für Hygieneregeln gibt, hätte es auch eins für die psychischen Aspekte geben müssen – also ein ganz selbstverständlicher Leitfaden, worauf zu achten ist, um sich nicht zu erschöpfen. Es ist ja nach wie vor gesellschaftlich verankert, dass mit Disziplin und Durchhalteparolen das alles schon zu schaffen ist. Aber das ist ein Irrtum und hat nicht unbedingt etwas mit menschlichen Realitäten oder emotional-psychischen Realitäten zu tun. Psychische Kraft entsteht nicht durch Parolen, sondern durch Begegnung.

Das heißt, emotional durch die Krise zu führen, Emotionen weder zu schüren noch zu unterdrücken, sondern sie aufzufangen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, gerade den negativen – das wäre ganz zentral – denn nur so kann wieder Platz für das Positive entstehen. Das gilt übrigens nicht nur für die Politik und Medien, sondern auch für jeden Einzelnen.

Geht es eher um das alte Problem, ob das Glas halbvoll oder halbleer sei?

Wenn man die Dinge realistisch betrachtet, dann ist das Glas weder halbvoll noch halbleer, dann ist es wie es ist. Und innerhalb dessen schaut man, was kann man jetzt bestmöglich tun. Man erkennt die Herausforderung an, auch in der Härte. Aber man sucht in dieser Härte nach Lösungen und guckt, was haben wir für Ressourcen, motiviert und führt dadurch durch die Krise. Je fähiger Menschen sind, realistisch zu sein, desto besser können sie sich in die Realität fügen. Nicht, indem sie bewerten, sondern indem sie sie gestalten. Empathie, Wertschätzung, Respekt, Augenhöhe, Offenheit – das sind alles Werte, die ich auch mir selbst entgegenzubringen habe. Und je klarer ich in meiner eigenen Identität bin, desto mehr bin ich in mir verortet und definiere mich nicht durch das, was ich im außen tue. Wenn ich genügend Ich habe, bin ich auch bereit für ein Wir. Das gesunde Miteinander beginnt immer mit einem gesunden Selbst.

Das ist bestimmt richtig, was die Wahrnehmung betrifft. Aber lässt sich das auch umsetzen, wenn man etwa derzeit in einer aussichtslosen materiellen Notlage ist?

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Absolut. Als Ärztin kann ich den Menschen in meiner Praxis helfen. Indem ich ihnen helfe, die Situation so anzuerkennen wie sie ist und dann Raum schaffe für die Emotionen – da ist ja viel Wut, Ärger und Verzweiflung vorhanden. Und dann gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wie man in dieser Situation nicht untergeht und resigniert: Also letztendlich akzeptieren zu können und in die Gelassenheit zu gehen.

Was das Thema Gelassenheit anbetrifft, so sagten Sie im vorigen Gespräch mit dem RND, dass der Glaube auch eine große Hilfe sei. Gilt das auch nach einem Jahr Pandemie noch?

Auf jeden Fall. Das ist natürlich Ihre Entscheidung, ob Sie den Glauben auf Werte begrenzen. Je spiritueller Sie sind, desto leichter kommen Sie dann in Bereiche, wo es selbstverständlich ist, dass es eine größere Kraft gibt als Sie selbst. Vor diesem Hintergrund sind Sie dann fähig zu Demut und Akzeptanz und einem Grundvertrauen, dass auch das, was ich vielleicht im Moment nicht verstehen kann, am Ende einen Sinn hat. Das bedeutet nicht Naivität, sondern die Anerkennung der eigenen Begrenztheit und darin das Finden von Freiheit. Krisenbewältigung besteht immer auch darin, ein Stück von dem, was ich meine, zu sein, aufzugeben und die Bereitschaft, sich dem Wesentlichen zuzuwenden. Dazu gehört eventuell auch, bisherige Lebenskonzepte in ihrem Sinn und ihrer tatsächlichen Machbarkeit zu hinterfragen und sich neu zu orientieren. Wenn wir in der Krise die Chance erkennen, dass vorher ausgeblendete und überdeckte Schwachstellen nun sichtbar werden und wir bereit sind, dies konstruktiv aufzugreifen, um auf wesentlichen Ebenen zu verändern – dann haben wir die Chance auf Wachstum – persönlich wie gesellschaftlich.

Was machen da die Agnostiker?

Das weiß ich nicht, da müssen Sie einen Agnostiker fragen (lacht).

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Anders gefragt: Erleben Sie, dass Menschen, die der Überzeugung sind, nicht zu glauben, größere Schwierigkeiten haben, scheinbar Unausweichliches zu akzeptieren?

Jetzt kommen wir ja in den philosophischen Bereich … Aber ein Agnostiker könnte ja auch ganz pragmatisch sein und im Falle eines Falles anerkennen, dass jetzt das Leben vorbei ist. Insofern würde ich das gar nicht verallgemeinern. Ich habe es aber auch in der Praxis erlebt, dass in der Arbeit mit Leuten, die zunächst nicht geglaubt hatten, zu Werten gefunden wurde, wo dann auch Glaube entsteht. Aber Glaube lässt sich nicht indoktrinieren. Entweder wird er erfahren oder nicht. Das wäre genauso widersinnig, Glauben implementieren zu wollen wie jemandem zu sagen, nun werde mal resilient! Aber sie können ganz konkret sagen: Ihr verliert Energie, wenn ihr versucht, gegen die Dinge anzukämpfen. Das heißt nicht, zu resignieren, sondern das Beste aus dem Möglichen zu machen – für mich selbst, für mein Gegenüber und für die Gemeinschaft.

Eine bekannte Methodik von Menschen in der Krise ist es auch, ihre Konzentration darauf zu verwenden, sich auf etwas zu freuen, was sie nach der Krise oder in absehbarer Zeit machen können. Worauf freuen Sie sich in diesem Jahr?

Ich freue mich darauf, dass ich bald wieder mehr Zeit habe auszureiten, wenn es wieder etwas wärmer ist. Dann freue ich mich darauf, meinen Roman fertig zu schreiben – und viel Zeit mit meiner Familie und Freunden zu verbringen.

Am 1. März erscheint im Südwest Verlag das neue Sachbuch von Mirriam Prieß, „Die Kraft des Dialogs. Gelingende Beziehungen mit dem Dialogprinzip – privat, beruflich, zu mir selbst“

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