Lockerungen trotz steigender Fallzahlen? Was die Corona-Lage in Deutschland hergibt
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In Dänemark ist es schon so weit: Die Einzelhändler dürfen ihre Geschäfte nach mehrmonatiger Schließung zum ersten Mal wieder öffnen. Unter welchen Bedingungen könnte Deutschland lockern? Das muss die Politik noch entscheiden.
© Quelle: Mads Claus Rasmussen/Ritzau Scan
Anfang März ist ein ungünstiger Zeitpunkt für weitere Öffnungen in Deutschland – zumindest aus epidemiologischer Sicht. Die Entwicklung des Infektionsgeschehens in den vergangenen Tagen zeigt, dass die Corona-Maßnahmen bereits jetzt zu schwach sind, um die von RKI-Präsident Lothar Wieler am vergangenen Freitag bei der Bundespressekonferenz betitelten „deutlichen Signale einer Trendumkehr“ aufzuhalten. Im Situationsbericht vom Montag (1. März) liest sich das dann so: „Momentan zeigt sich ein erneuter Anstieg der Fallzahlen. Der Sieben-Tage-R-Wert liegt um eins. Es besteht durch das Auftreten verschiedener Virusvarianten ein erhöhtes Risiko einer erneuten stärkeren Zunahme der Fallzahlen.“
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Dass Deutschland am Anfang einer neuen Verbreitungswelle stehe, davor warnen viele: Virologen wie Christian Drosten und Melanie Brinkmann, Modellierer wie Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann, die Intensivmediziner der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Bei weiteren Öffnungsschritten sei auch mit der weiteren Ausbreitung der Virusvarianten und gleichzeitig wieder mehr Kontakten eine erneute Zunahme der Corona-Infektionen zu erwarten. Die Folge: viele schwer an Covid-19 Erkrankte und Tote, Massenquarantäne in Betrieben und Bildungseinrichtungen, möglicherweise erneut ein Lockdown. Eine vollständige Impfung schützt hierzulande erst 2,6 Prozent der Gesamtbevölkerung – das reicht nach Auffassung von Wissenschaftlern nicht aus, um die drohende dritte Infektionswelle auszugleichen.
Videoschalte vor der Ministerpräsidentenkonferenz: „Es soll alles getan werden, langsam zu lockern“
In der RND-Videoschalte blickt Kristina Dunz, stellvertretende Leiterin des RND-Hauptstadtbüros, auf die anstehende MPK und den vorliegenden Beschluss-Entwurf.
© Quelle: RND
R-Wert um 1, wieder mehr Corona-Neuinfektionen in den Landkreisen
Dass eine Trendumkehr zu befürchten ist, zeigen auch die Zahlen. Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt wieder. Am Dienstag lag der Wert bundesweit bei 65,4. Am Freitag (26. Februar) lag er noch bei 62,6. Gemäß dem bisherigen politischen Kurs wäre ein weiteres Fallen des Werts auf 35 notwendig für weitere Lockerungen. Weit entfernt: 262 von 412 Kreisen weisen eine hohe Sieben-Tage-Inzidenz von über 50 auf. In 56 Kreisen liegt sie bei über 100 Fällen auf 100.000 Einwohner, davon in vier Kreisen bei über 250 Fällen. In Bremen, Hamburg, Saarland und Sachsen liegt die Inzidenz leicht, in Sachsen-Anhalt und Thüringen deutlich über der Gesamtinzidenz.
„Wir müssen davon ausgehen, dass die besorgniserregenden Varianten eine Rolle dabei spielen“, erläuterte Wieler beim Pressebriefing am Freitag. Der aktuelle Bericht zur Ausbreitung der britischen Variante B.1.1.7 hat in PCR-Testproben einen Anteil von 22 Prozent mit dieser Mutation festgestellt. B.1.1.7 breite sich rasch aus, sei ansteckender und gefährlicher. Den Sieben-Tage-R-Wert erachten Forscher als Frühwarnwert für den Moment, in dem die ansteckenderen Virusvarianten in Deutschland dominanter werden und das Infektionsgeschehen beschleunigen. Seit dem 8. Februar ist dieser R-Wert wieder angestiegen, kurzzeitig wieder etwas gefallen, liegt aber immer noch um den kritischen Wert von eins. Bleibt das so, ist das ein Signal für möglicherweise erneutes exponentielles Wachstum.
Zahl der Todesfälle bleibt noch auf hohem Niveau
Auch die Kurve bei der Entwicklung der absoluten Zahl der Neuinfektionen verdeutlicht, dass die Infektionsdynamik nicht mehr so ausgebremst wird wie noch vor wenigen Wochen. Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem Robert-Koch-Institut (RKI) an diesem Dienstag 3942 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Vor genau einer Woche waren es an diesem Tag 3883 neue Fälle. Auch ältere Personen seien nach wie vor sehr häufig von schweren Covid-19-Verläufen betroffen und die Anzahl der Todesfälle trotz rückläufigem Trend „auf hohem Niveau“. Zum Vergleich: 358 Tote im Zusammenhang mit dem Coronavirus wurden den Gesundheitsbehörden allein am Dienstag gemeldet, 415 waren es an diesem Tag in der Vorwoche.
Die Infektionen würden zumeist durch diffuses Geschehen mit zahlreichen Häufungen vor allem in Haushalten, bei der Arbeit und in Alten- und Pflegeheimen verursacht, heißt es zum Ansteckungsumfeld im RKI-Situationsbericht. Infektionsketten könnten in zahlreichen Kreisen nicht eindeutig nachvollzogen und das genaue Infektionsumfeld nicht ermittelt werden – was eigentlich eines der zentralen politische Ziele der Lockdown-Maßnahmen war.
Modell zeigt hohe Belastung der Intensivstationen bei Lockerungen
Auf den Intensivstationen sind aktuell 2869 Covid-19-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung. Divi-Simulationen in Kooperation mit der Technischen Hochschule Aachen zeigen, dass bei Lockerungen vor April bei gleichbleibender Impfgeschwindigkeit und der weiteren Ausbreitung von B.1.1.7 mit einer erneuten sehr hohen Belastung der Intensivstationen und Kliniken im Frühjahr zu rechnen sei.
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Intensivbettenbelegung bei Kontrolle des R-Wertes für den Wildtyp um eins (=1.35 für B.1.1.7) in Abhängigkeit von dem Zeitpunkt der Lockerung mit Erreichen des R-Wertes von eins für den WT.
© Quelle: Divi
Gerechnet werde bei frühen Lockerungen ab Anfang März im ungünstigsten Szenario Mitte Mai mit bis zu 25.000 Covid-19-Intensivpatienten, ein extrem hoher Wert, der Intensivstationen überfordern würde und den es zu vermeiden gelte. Effekte durch den befürchteten Anstieg bei den Neuinfektionen wären in den Kliniken durch den Zeitverzug immer erst einige Wochen später zu spüren.
Die Kontrolle behalten durch systematisches Testen?
Jede Strategie hat gewisse Stärken und Schwächen, aber jede der Strategien ist besser als keine Strategie.
Aus einem Papier der No-Covid-Gruppe
Wie viel Lockerungen sind angesichts dieser Entwicklungen also möglich? Eine grundsätzliche politische Ausrichtung fehlt weiterhin. Ansätze aus der Wissenschaft gibt es inzwischen viele – von Stufenplänen ohne Inzidenzbezug (Klaus Stöhr) über Konzepte mit vier „Intensitätsstufen“ gemäß Ansteckungsrisiko an unterschiedlichen Orten (RKI) bis hin zur No-Covid-Strategie mit sehr niedriger Inzidenz.
Bund-Länder-Plan mit Ausnahmen: Lockdown-Verlängerung bis 28. März
Bund und Länder steuern auf eine teilweise Lockerung der Kontaktbeschränkungen und eine schrittweise Öffnung verschiedener Bereiche zu.
© Quelle: Reuters
„Jede Strategie hat gewisse Stärken und Schwächen, aber jede der Strategien ist besser als keine Strategie“, kritisierte die No-Covid-Gruppe in einem am Dienstag veröffentlichten Papier. Die Wissenschaftler, darunter die Virologin Melanie Brinkmann, der Physiker Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, der Ökonom Clemens Fuest vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung und der RKI-Physiker Dirk Brockmann, betonen: „Ohne die Implementierung intelligenter Teststrategien halten wir Öffnungen zu diesem kritischen Zeitpunkt der Pandemie für kontraproduktiv und schädlich.“ Regelmäßige Tests zu Hause, in Schulen und bei der Arbeit müssten natürlicher Bestandteil von Alltagsroutinen und Mobilitätsmustern werden.
Eigentlich seien umfassende Öffnungen nur möglich, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz sehr niedrig sei. Komme es in Regionen mit höheren Werten dennoch zu Öffnungen, brauche es kompensatorische Maßnahmen – um die Kontrolle zu behalten, Infektionsketten schnell aufspüren und effektiv auszubremsen. „Bei Anwendung intelligenter Teststrategien erscheinen Öffnungen in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, in Unternehmen, in kulturellen und sozialen Bereichen grundsätzlich möglich“, urteilen die Forscher.